Memmingen. Sandra Klingbeil ist Zugbegleiterin. Oft wird sie beleidigt, auch mal attackiert. Alltag vieler Angestellter im öffentlichen Dienst.
- Wer im öffentlichen Dienst arbeitet, erlebt beinahe tägliche wüste Beleidigungen und Bedrohungen
- Eine Zugbegleiterin erzählt im Gespräch mit unserer Redaktion von ihrem Arbeitsalltag
- Sie ist kein Einzelfall: Gewalt gegen Beschäftigte im Dienst der Öffentlichkeit haben 42 Prozent der Deutschen bereits miterlebt
Eine Kollegin hatte Sandra Klingbeil noch gewarnt. An der Haltestelle Finningerstraße, kurz vor Ulm, wartet ein wütender Fahrgast. Mit Fahrrad. Mehrere Zugbegleiter mussten ihm eine Mitfahrt verweigern. Die Züge sind an diesem warmen Juni-Tag voll, bis an die Türen stauen sich die Menschen, als Zugbegleiterin Klingbeil in ihrer Regionalbahn in den Bahnhof einfährt. Sie ahnt schon, dass es Probleme geben kann.
Klingbeil steigt auf den Bahnsteig, spricht mit dem Mann mit dem Fahrrad, erklärt die Lage. Doch der Mann will unbedingt mitfahren, drängt durch die Zugtür in den Gang. Drücken, schubsen. Klingbeil spürt, wie das Fahrrad gegen ihr Knie knallt, gegen den Arm. Wortwechsel, Gerangel. Plötzlich holt der Mann aus, schiebt mit Wucht das Fahrrad durch die Tür, stößt Klingbeil zur Seite, sie prallt mit Kopf und Rücken gegen die Tür, stürzt fast.
Die Situation eskaliert. Ein anderer Fahrgast schubst den Mann zurück. „Lassen Sie die Frau in Ruhe!“, ruft er. Sandra Klingbeil sagt nichts mehr, sie ist benommen. Dann geht die Zugtür zu. Die Bahn fährt ab.
Klingbeil spürt, dass ihr Kopf schmerzt, der Ellenbogen auch. Sie bricht die Schicht ab. Eine Woche lang ist sie krankgeschrieben. So schildert sie den Vorfall heute. Seit gut sieben Jahren arbeitet die 41 Jahre alte Frau als Zugbegleiterin, fährt die Strecke von Kempten nach Ulm, Augsburg oder München. Immer ist sie im Allgäu unterwegs. Und immer wieder kommt es vor, dass Fahrgäste sie beleidigen, bedrohen, und in einzelnen Fällen auch attackieren.
„Ich ficke deine Mutter!“
„Scheiß Deutsche Bahn!“
„Begegne mir nicht im Dunkeln!“
„Ich werde dich umbringen!“
Wenn Sandra Klingbeil ihre Schicht schiebt, muss sie sich diese Sätze anhören. Klingbeil erzählt ruhig, hat eine freundliche Stimme, kurzes, rotgefärbtes Haar. Früher hat sie eine Ausbildung zur Bäckerei-Fachfrau gemacht, dann in der Gastronomie gearbeitet. Doch weil zwei Kinder und Familie Planbarkeit und Zeit brauchen, schulten sie und ihr Mann um. Klingbeil sagt, sie mag den Beruf der Zugbegleiterin sehr, sie kann Menschen helfen, hat Kontakt zu Kunden, kann Sicherheit geben.
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Alltag bei der Deutschen Bahn: „Wollen Sie mich angreifen?“
Jedenfalls an guten Tagen. An schlechten Tagen spürt sie die Aggressionen. Klingbeil sagt Sätze wie: „Ich fühle mich wie der Fußabtreter für die Probleme der Leute.“
Schlechte Tage wie neulich, im Zug Richtung Ulm. Klingbeil läuft durch die Abteile, grüßt freundlich, kontrolliert die Fahrkarten. Ein junger Mann hat eine personalisierte „Junior-Karte“, doch sie passt nicht auf seinen Namen. Sie nimmt den Ausweis, nimmt das Ticket, sagt: „Warten Sie, ich sage Ihnen gleich, wie es weitergeht.“ Sie muss die Fahrkarte einziehen, und Klingbeil weiß schon, dass das heikel wird.
Der junge Mann steht plötzlich auf, will sein Ticket zurück. Er baut sich vor Klingbeil auf, anderthalb Köpfe größer, bedrängt sie, langt mit dem Arm nach der Karte. Klingbeil schiebt ihre Hand gegen die Brust des Mannes. „Bitte hören Sie auf! Wollen Sie mich angreifen?“
Erst dann beruhigt sich der Mann. Fahrgäste, so sagt Klingbeil, hätten die Situation miterlebt. Und doch nichts getan. Einer habe sich noch beschwert, wechselte das Abteil. „Erst als ich wieder an der Sprechanlage bin und den nächsten Halt ansage, merke ich, wie ich zittere.“
Unternehmen | Deutsche Bahn AG |
Gründung | 1. Januar 1994 |
Gründungsstadt | Berlin |
Eigentümer | Bundesrepublik Deutschland |
In Bottrop tritt eine 19-Jährige einem Feuerwehrmann gegen die Brust
Meldungen der letzten Zeit: In einem Eurocity Richtung Frankfurt bespuckt ein Reisender das Personal. In Mülheim übergießen Randalierer einen Zugbegleiter mit Alkohol, beleidigen ihn. Bei Flensburg bedroht ein Fahrgast den Kontrolleur, als der ihm das Rauchen verbieten will. Zugbegleiterin Klingbeil sagt: „Die Zündschnur der Fahrgäste ist kürzer geworden.“
Und nicht nur Bahnpersonal trifft es. In Brandenburg versucht ein Betrunkener, einen Polizisten vor einen Intercity zu stoßen. In Bottrop tritt eine 19-Jährige einem Feuerwehrmann bei einem Rettungseinsatz gegen die Brust. In Köln greifen Bewohner einer Asylunterkunft einen Polizisten an. Bei einem Einsatz in Südbayern tritt und schlägt ein Mann die Rettungssanitäter, die ihm eigentlich helfen sollen.
Es fehlen bundesweite Lagebilder über Gewalt gegen Menschen im öffentlichen Dienst. Ein Forschungsteam der Hochschule Speyer merkte 2022 an, dass die Übergriffe nicht unbedingt zugenommen haben, aber die Anzeigebereitschaft und die Sensibilität des Personals gewachsen ist. Und die Forscher sagen, dass die Betroffenheit von Gewalt in dem Berufsfeld hoch ist.
Neue Zahlen zeichnen dieses Bild ebenfalls nach: Gewalt gegen Beschäftigte im Dienst der Öffentlichkeit haben 42 Prozent der Deutschen bereits miterlebt, etwa im Zug, auf der Straße, bei Rettungseinsätzen. Oft geht es um Beleidigungen oder Bedrohungen, aber auch um körperliche Angriffe. Das geht aus einer repräsentativen Umfrage von infratest dimap im Auftrag des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) hervor, die unserer Redaktion vorliegt.
Die Angestellten erleben häufig respektloses Verhalten: Ein Viertel berichtet von körperlichen Angriffen, ein Drittel von Bedrohungen, eine Mehrheit von 61 Prozent erzählt von Beleidigungen. Die Zahlen sind deutlich höher als in anderen Berufsgruppen. Das verwundert zunächst nicht, denn wer auf der Straße, in der Bahn oder der Verwaltung arbeitet, hat täglich Kontakt mit vielen Menschen – das führt öfter zu Konflikten als bei Personen, die im Büro arbeiten oder auf der Baustelle.
„Personalmangel, marode Infrastrukturen und komplizierte Verwaltungsvorgänge“
Doch sind Angriffe für viele betroffene Angestellte heftig. „Die Beschäftigten in öffentlichen Bereichen sind immer öfter Blitzableiter für die persönliche Unzufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger in diesem Land“, sagt die stellvertretende Vorsitzende des DGB, Elke Hannack, unserer Redaktion. „Die Ursachen liegen auf der Hand: akuter Personalmangel, marode Infrastrukturen und komplizierte Verwaltungsvorgänge – jahrzehntelang wurde die Daseinsfürsorge kaputtgespart und im Ergebnis hat der Staat regelmäßig Schwierigkeiten, seine Aufgaben zu erfüllen.“
Bei der Bahn bedeutet das: volle Züge, Verspätungen, kaputte Klimaanlagen – all das bekommt das Personal zu spüren: durch die Wut der zahlenden Fahrgäste. So zeigt sich laut der DGB-Umfrage, dass vor allem dort wenig Respekt herrscht, wo die Zufriedenheit mit der Dienstleistung ohnehin gering ist: also im Bahnverkehr, bei den Ordnungsämtern, in der Verwaltung, aber auch im Schulsystem. Meist sind es Beleidigungen, seltener Schläge oder Tritte. Nur sehr selten Waffengewalt.
Andersherum gilt: Dort, wo die Menschen mit dem Service zufrieden sind, nehmen sie auch mehr Respekt gegenüber den Bediensteten an. Aus Sicht der Gewerkschaft muss daraus vor allem eines folgen: mehr Investitionen der öffentlichen Hand, „in mehr Personal, in den Ausbau einer modernen, digitalen Verwaltung, in flächendeckende Bildung, Pflege und Krankenversorgung, in einen funktionierenden Nah- und Fernverkehr und natürlich auch in Sicherheit“, sagt DGB-Vize Hannack.
Der Slogan der Gewerkschaft: „Vergiss nie, hier arbeitet ein Mensch“
Die Gewerkschaft startet zudem eine Kampagne. „Vergiss nie, hier arbeitet ein Mensch“, heißt der Slogan. Dazu zeigen die Plakate Fotos von Menschen in Arbeitskleidung: Feuerwehrleute, Bahnpersonal, Polizistinnen, Busfahrer, Sachbearbeiterinnen in der Verwaltung.
Auf einem der Plakate ist auch Thomas Aulbur, 51 Jahre alt, Vater von zwei Kindern, und seit 27 Jahren Rettungssanitäter im Kreis Paderborn. Er sagt: „Es ist konfliktreicher geworden im Job.“ Weil der Druck im Gesundheitssystem hoch ist, Notaufnahmen überfüllt sind. Weil die Corona-Pandemie und die Lockdowns die Lage verschärft habe. Aber auch weil die Ansprüche der Patienten an die Dienste gewachsen seien – und der eigene Rückhalt durch den Arbeitgeber manchmal fehle, sagt Aulbur. Weil Überstunden wachsen.
Nicht selten sei er bei Einsätzen angespannt. „Wir müssen schauen, wie sind die Patienten drauf, man muss vorsichtig sein.“ Und Aulbur sagt: „Es gibt ein paar Menschen, da gehe ich ohne Polizeibegleitung nicht hin.“ Er nennt sie „Stammkunden“, meist psychisch Erkrankte, Alkoholiker oder Drogenabhängige. Wenn sie Aulbur und das Team rufen, wollen viele sofort in eine Klinik. Passiert das nicht, wachse die Aggression. Manche legen los und beleidigen, andere drohen, auch mit Gewalt, stellen sich vor Aulbur auf, kommen näher. Viele dieser Patienten seien schon wegen Körperverletzung in Haft gewesen.
Wenn Aulbur in einer Wohnung sei und ein schlechtes Bauchgefühl habe, oder ein Messer auf dem Küchentisch liegen sehe, dann lasse er sich nicht in eine Ecke drängen. „Ich muss mir einen Fluchtweg freihalten.“
Viele halten die Einsätze auf der Straße nicht durch, jedenfalls nicht bis zur Rente. Rettungssanitäter reduzieren die Arbeitszeit, schulen um. Auch Thomas Aulbur macht eine Weiterbildung, will als Dozent an Rettungsschulen arbeiten. In der Pflege oder bei der Polizei sieht es ähnlich aus. Die Folge: Schulen, Kitas, Rettungsdiensten, Verkehrsunternehmen – überall fehlt Personal. Das wirkt sich auf den Service aus. Und das wiederum kann Aggressionen bei Kunden steigern. Ein teuflischer Kreislauf.
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Lob und Dank – trotz 55 Minuten Verspätung
Dabei ist es so: Wer mit Menschen wie Sandra Klingbeil oder Thomas Aulbur spricht, hört Berufsbegeisterte. „Das war immer mein Traumjob“, sagt Sanitäter Aulbur. Und Zugbegleiterin Klingbeil erzählt von einer Fahrt über Ulm. Sie meldet den Gästen in der Regionalbahn immer neue Verspätungen. Menschen verpassen an dem Tag Züge Richtung Berlin und Hamburg. Aber Klingbeil rennt durch die Abteile, informiert, sucht nach alternativen Routen, macht Durchsagen, öffnet die Fenster und die erste Klasse für Mütter mit Kindern. Am Ende der Fahrt kommen Gäste zu ihr, bedanken sich, loben – trotz 55 Minuten Verspätung.
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