Berlin. Der Söder-Stellvertreter in der CSU und Chef der europäischen Christdemokraten sorgt sich um die Demokratie – und benennt einen Hoffnungsträger.

Es ist ein denkwürdiger Aufruf zur Europawahl, den das Europäische Parlament verbreitet: In einem emotionalen Kurzfilm sorgen sich ältere Menschen um Europa. Eine Frau, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, sagt: „Passt gut auf die Demokratie auf, wenn ich nicht mehr bin.“ Manfred Weber, Partei- und Fraktionschef der europäischen Christdemokraten (EVP), sagt beim Besuch in unserer Berliner Redaktion, wie sich Freiheit und Demokratie gegen alle Anfeindungen behaupten können – und wen er als 16-Jähriger gewählt hätte.

Herr Weber, wie düster sind die Aussichten für die Demokratie in Europa?

Manfred Weber: Le Pen in Frankreich, PiS in Polen, FPÖ in Österreich – ein Blick auf die politische Landkarte zeigt, dass rechtspopulistische und radikale Parteien in ganz Europa auf dem Vormarsch sind. Der Wahltermin am 9. Juni ist sehr, sehr wichtig. Wir können mit einem funktionsunfähigen Europaparlament aufwachen, das keine demokratischen Mehrheiten mehr findet, um die nächste Kommission ins Amt zu bringen und wesentliche Gesetze zu beschließen. Wir haben genug Feinde Europas, die genau das befeuern. Wladimir Putin freut sich auf solche Schwächen. Ja, die Europawahlen sind historische Wahlen.

In Deutschland werden demokratische Politikerinnen und Politiker – Franziska Giffey, Matthias Ecke, Katrin Göring-Eckardt – bedrängt und überfallen. Was braut sich da zusammen?

Wir erleben eine Radikalisierung in der politischen Auseinandersetzung, die auch zu Gewalt auf der Straße führt. Wer Hetze betreibt, ist ein Feind der Demokratie.

Videografik: So läuft die Europawahl ab

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    Werden Sie selbst bedroht?

    In der Vergangenheit bin ich bedroht worden, vor allem im Internet. Ich habe Vertrauen in unsere Polizei, die in diesen Fällen immer sehr klar reagiert hat. Die Kräfte der demokratischen Mitte müssen jetzt zusammenrücken. Wir müssen den Rechtsstaat durchsetzen mit allen Instrumenten, die wir haben.

    Reichen die Instrumente denn aus?

    Die nationale Debatte läuft, das muss im Einzelfall abgewogen werden. Die Entschiedenheit des Rechtsstaats ist gefordert. Wir dürfen dabei aber nicht unsere Prinzipien über Bord werfen. Als Europapolitiker ist mir wichtig: Diejenigen, die diese Verbrechen begehen, müssen schnell spüren, dass ihre Taten nicht ungeahndet bleiben.

    Was bedeutet das für den Umgang mit der AfD?

    Die letzten Jahre zeigen: Die AfD ist eine verrottete, korrupte Partei von Vaterlandsverrätern. Ermittler haben Anhaltspunkte gefunden, dass AfD-Politiker aus Russland finanziert werden. Gegen den AfD-Spitzenkandidaten Krah gibt es Vorermittlungen, sein früherer Mitarbeiter sitzt wegen möglicher Spionage für China in Untersuchungshaft. Das müssen wir den Menschen im Wahlkampf sagen. Genauso wichtig ist allerdings, dass wir Antworten geben auf die echten Sorgen der Menschen.

    Manfred Weber, Partei- und Fraktionschef der christdemokratischen EVP, beim Interview in unserer Redaktion.
    Manfred Weber, Partei- und Fraktionschef der christdemokratischen EVP, beim Interview in unserer Redaktion. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

    Konkret?

    Wir brauchen politische Antworten, etwa auf die Frage, welches Europa wir wollen. Ich habe den ThyssenKrupp-Mitarbeiter im Blick, der um seinen Arbeitsplatz fürchtet wegen der chinesischen Stahlimporte. Es geht darum, Wohlstand zu sichern. Wir wollen Handel mit der Welt treiben, müssen dabei aber jede Naivität ablegen. Gerade gegenüber China brauchen wir Schutzmöglichkeiten bis hin zu Zöllen. Das betrifft nicht nur Stahl, sondern auch Elektroautos, Wärmepumpen und andere elektronische Produkte.

    Sie plädieren für mehr Protektionismus?

    Nein, ich bin für freien Welthandel, aber wir müssen auf die neue Wirtschaftsrealität reagieren. Sonst überlegen sich immer mehr Menschen, populistische Parteien zu wählen. Wir müssen den Mut haben, Führung zu zeigen. Das gilt nicht nur für die Wohlstandssicherung, sondern auch für die Erhaltung des Friedens. Wir brauchen jetzt eine europäische Verteidigung. Wenn Hunderte iranische Drohnen und Raketen, die Israel attackiert haben, Richtung Europa geflogen wären, hätten wir sie nicht vom Himmel holen können. Wir müssen in der Lage sein, solche Attacken bereits abzuwehren, bevor sie die EU erreichen. Wir brauchen dringend einen europäischen Raketenschutzschirm – und endlich eine Brigade zur Abwehr von Cyberangriffen.

    Sind wir Putin ausgeliefert, wenn Trump wieder US-Präsident wird?

    Ich vertraue auf die transatlantische Partnerschaft. Aber richtig ist, dass die Europäer derzeit alleine nackt in einer Welt von Stürmen sind. Ganz gleich, ob Donald Trump ins Weiße Haus zurückkehrt oder nicht: 330 Millionen US-Amerikaner werden nicht dauerhaft 440 Millionen Europäer verteidigen. Als ersten Schritt hat Ursula von der Leyen angekündigt, einen EU-Verteidigungskommissar zu berufen. Wir müssen einen europäischen Binnenmarkt für Rüstungsgüter schaffen. Wir haben bis zu 17 verschiedene Panzerarten in der EU, die Amerikaner haben eine. Wir haben 180 verschiedene Waffensysteme, die Amerikaner haben 30. Wir können viel effizienter und stärker werden. Wenn wir endlich gemeinsam investieren, sparen wir Milliarden an Steuergeld. Die einzige Währung, die zählt, ist Einheit und Stärke. Diese Haltung der Christdemokratie steht im Kontrast zum sozialdemokratischen Modell von Appeasement. Die SPD meint immer noch, man könne Russland beruhigen, wenn man zurückhaltend ist.

    Ein Taurus-Marschflugkörper vor der Küste Südkoreas. EVP-Chef Manfred Weber kritisiert im Interview die Weigerung von Bundeskanzler Olaf Scholz, der Ukraine Taurus-Marschflugkörper zu liefern.
    Ein Taurus-Marschflugkörper vor der Küste Südkoreas. EVP-Chef Manfred Weber kritisiert im Interview die Weigerung von Bundeskanzler Olaf Scholz, der Ukraine Taurus-Marschflugkörper zu liefern. © DPA/AP | South Korea Defense Ministry

    Halten Sie Kanzler Scholz für einen neuen Chamberlain? Der britische Premier scheiterte vor dem Zweiten Weltkrieg mit dem Versuch, Hitler zu beschwichtigen ...

    Scholz ist nicht Chamberlain. Aber Scholz spaltet seine eigene Regierung mit der Weigerung, Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine zu liefern. Und er spaltet Europa. In Osteuropa gibt es wenig Verständnis für die wahrgenommene halbherzige Haltung des Bundeskanzlers. Appeasement haben die Sozialdemokraten ja schon einmal betrieben, als sie nach der Annexion der Krim die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 noch durchgezogen haben.

    Moment! Damals war Merkel Kanzlerin.

    Nord Stream 2 war vor allem ein sozialdemokratisches Projekt, denken Sie nur an die Rolle von Gerhard Schröder oder Manuela Schwesig. Scholz betreibt – genauso wie der französische Präsident Macron – mehr nationale Innenpolitik, statt die notwendige Führung zu zeigen. Das ist ein großes Dilemma. Populismus ist auch deswegen so stark, weil aus der politischen und gesellschaftlichen Mitte heraus keine Orientierung gegeben wird. Wir brauchen schnellstens einen gemeinsamen Plan, wie Europa verteidigungsfähig wird.

    Gehören dazu auch europäische Atomwaffen?

    Es ist eine Diskussion über die nukleare Verteidigung Europas notwendig. Ich wundere mich, warum Scholz nicht mal auf das Gesprächsangebot von Macron reagiert, welche Bedeutung der französische Atomschirm für andere europäische Staaten haben kann. Die Stille in Berlin ist beängstigend.

    Verteidigungsminister Pistorius will die Bundeswehr in fünf bis acht Jahren kriegstüchtig machen. Reicht das?

    Nein! Es entsteht der Eindruck, dass es nicht eilt. Die Realität ist: Putin attackiert uns im Cybernetz schon jeden Tag. Und wir haben keine Garantie, dass es bei Cyberangriffen bleibt.

    Sicherung des Friedens, Sicherung des Wohlstands: Verschwindet die AfD automatisch, wenn demokratische Parteien diese Fragen beantworten? Oder brauchen wir doch ein Verbotsverfahren?

    Alle Optionen, um unseren Rechtsstaat zu schützen, liegen auf dem Tisch. Das gehört zur wehrhaften Demokratie. Aber jetzt, vor der Europawahl, geht es um die politische Auseinandersetzung. Wir müssen die Themen der Menschen ernst nehmen und den harten Kern der AfD attackieren. Mir macht Hoffnung, dass so viele Bürgerinnen und Bürger für die Demokratie auf die Straße gehen. Die AfD ist keine normale Partei, sondern gehört zu den Radikalsten unter den Radikalen in Europa. Wer sonst will sein Land noch aus der EU führen? Wenn die AfD mehr Verantwortung bekommt, kann vieles ins Rutschen kommen. Das würde die Sicherheit und den Wohlstand Deutschlands bedrohen.

    Steht die Brandmauer nach rechts? Garantieren Sie, dass von der Leyen nicht mit den Stimmen von Rechtsradikalen als Kommissionspräsidentin wiedergewählt wird?

    Ich habe als Parteichef der EVP drei Kernprinzipien definiert für eine Kooperation. Für uns kann nur Partner sein, wer für Europa, für die Ukraine und für den Rechtsstaat einsteht. Auf andere Stimmen werden wir uns bei der Wahl der Kommissionsspitze nicht stützen.

    EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist zur Europawahl Spitzenkandidatin der EVP, der Parteifamilie der europäischen Christdemokraten. Das Foto zeigt sie bei ihrer Bewerbungsrede beim Nominierungsparteitag der EVP (englisch nennt sie sich EPP) in Bukarest.
    EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist zur Europawahl Spitzenkandidatin der EVP, der Parteifamilie der europäischen Christdemokraten. Das Foto zeigt sie bei ihrer Bewerbungsrede beim Nominierungsparteitag der EVP (englisch nennt sie sich EPP) in Bukarest. © AFP | WOJTEK RADWANSKI

    Haben Sie einen Plan B, wenn von der Leyen im Europaparlament durchfällt?

    Ursula von der Leyen ist unsere Kandidatin und sie wird gewählt werden. Wenn die EVP stärkste Kraft wird, muss sie eine zweite Amtszeit als Kommissionspräsidentin bekommen. Ich fordere SPD und Grüne auf, vor der Wahl zu erklären, dass sie sich an dieses Grundprinzip halten und nicht Angst vor der eigenen Courage haben wie beim letzten Mal. Sonst verlieren die Menschen das Vertrauen in die Demokratie.

    Sie haben als EVP-Spitzenkandidat die vergangene Europawahl gewonnen – und sind trotzdem nicht Kommissionspräsident geworden. Wie tief sitzt der Stachel noch?

    Das ist abgehakt. Ich bin enttäuscht, weil die Wählerinnen und Wähler betrogen wurden. Sozialdemokraten, Liberale und Grüne haben die Unterstützung für den demokratischen Wahlsieger verweigert. Damit hat sich das Parlament selbst entmachtet.

    Stärkt es die Demokratie, dass jetzt auch 16-jährige abstimmen dürfen?

    Ich freue mich darauf, junge Menschen zu überzeugen. Ihnen geht es nicht nur um das Klima, sondern auch um Wohlstand und Frieden. 16-Jährige sind genauso mündige Bürger wie 30- oder 70-Jährige.

    Wen hätten Sie damals als 16-Jähriger gewählt

    Die CSU. Auch wenn Sie es nicht glauben, ich habe damals tatsächlich verschiedene Wahlprogramme gelesen.

    Waren Sie als Jugendlicher schon so konservativ?

    Ich war nie nur konservativ, sondern immer ein liberaler und werteorientierter Christsozialer und überzeugter Europäer. So eine Wahlaussage heißt ja nicht, dass man immer alles gut findet. (lacht)

    Wählen mit 16 – ist das ein Modell für die Bundestagswahl?

    Das ist ein Experiment auf europäischer Ebene. Politische Teilhabe zu verbreitern, ist gut für die Demokratie. Ich bin gespannt, wie hoch die Wahlbeteiligung sein wird. Alles weitere ist Sache nationaler Politik.

    Wäre ein 69-jähriger Friedrich Merz das richtige Zugpferd der Union für die Bundestagswahl?

    Er hat beim CDU-Parteitag eine überzeugende Rede gehalten und ist gestärkt worden. Friedrich Merz ist die klare Nummer eins in der Union. Wir wollen die nächste Wahl gewinnen.

    Ist CSU-Chef Söder noch im Rennen?

    Wie gesagt: Merz ist die klare Nummer eins. Aber die CSU redet immer ein Wort mit. Der Fahrplan zur Kanzlerkandidatur steht: Die Entscheidung fällt nach den Landtagswahlen im September.

    Manfred Weber, Partei- und Fraktionschef der Europäischen Volkspartei (EVP).
    Manfred Weber, Partei- und Fraktionschef der Europäischen Volkspartei (EVP). © FUNKE Foto Services | Reto Klar

    Merz hat den Begriff der deutschen Leitkultur zurück in die Politik gebracht. Was verstehen Sie darunter?

    Die Leitkultur beschreibt die Grundlagen des Zusammenlebens in unserer Gesellschaft. Sichern kann man die Leitkultur aber nur, wenn wir sie europäisch denken.

    Sie plädieren für eine europäische Leitkultur?

    Ja. Für mich ist die deutsche Leitkultur eingebettet in eine europäische Leitkultur: den „European Way of Life“, die europäische Lebensweise. Dazu gehören Demokratie, Rechtsstaat, Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, Ablehnung der Todesstrafe, soziale Marktwirtschaft, Klimaschutz. Über allem steht die Freiheit. Das gilt in Deutschland genauso wie in Portugal, Italien oder Polen. Die Welt wandelt sich rasant. Die Grundsätze unseres Zusammenlebens können wir national nur noch beschränkt durchsetzen. Dafür brauchen wir ein gemeinsames europäisches Verständnis.

    Was soll mit Leuten geschehen, die diese Leitkultur ablehnen – und Deutschland in ein Kalifat verwandeln wollen?

    Wer unsere Grundwerte infrage stellt und für ein Kalifat demonstriert, sollte den Rechtsstaat mit ganzer Härte zu spüren bekommen – bis hin zur Ausweisung, wenn das möglich ist. Wir dürfen es nicht dulden, dass unsere europäischen Grundprinzipien verletzt werden.