Kiew. Vitali Klitschko spricht über sein Verhältnis zu Selenskyj, seine in Deutschland lebenden Söhne und seine politischen Ambitionen.
Unser Reporter Jan Jessen hat Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko in seinem Büro in der ukrainischen Hauptstadt getroffen. Im ersten Teil des großen Interviews spricht der 52-jährige Ex-Boxer über den Horror in seiner Stadt und wie der ihn verändert. Im zweiten Teil sagt Klitschko, warum er sich über Wolodymyr Selenskyj ärgert und warum seine Söhne noch in Deutschland sind.
Im Juni ist in Berlin eine Wiederaufbau-Konferenz geplant. Halten Sie es für sinnvoll, bereits jetzt über den Wiederaufbau zu sprechen oder ist das verfrüht?
Vitali Klitschko: Man muss auf jeden Fall Pläne für den Wiederaufbau machen. Wiederaufbau bedeutet aber nicht nur, zerstörte Brücken, Straßen oder Gebäude zu reparieren. An erster Stelle müssen wirtschaftliche und politische Reformen stehen. Wir müssen uns an europäischen Werten und Gesetzen orientieren, das betrifft demokratische Regeln, die Selbstverwaltung und den Kampf gegen die Korruption. Der erste Schritt müssen die Reformen sein, danach kann man Pläne für den Wiederaufbau implementieren. Diese Pläne sollten aber fertig sein, wenn der Krieg zu Ende ist.
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Sie sprechen gerade die Korruption an. Westliche Partner befürchten, dass von den Milliarden, die für den Wiederaufbau ins Land fließen müssen, manches wegen der Korruption versickern könnte. Sehen Sie die ukrainische Regierung auf einem guten Weg, gegen die Korruption vorzugehen? Wird da genug getan?
Diese Frage können Sie jedem Bürger stellen und ich bin sicher, jeder Bürger sagt: „Nein“.
Und Sie persönlich?
Ich habe genau dieselbe Meinung.
Es gab in der Vergangenheit Spannungen zwischen Ihnen und dem Präsidenten. Haben Sie sich mittlerweile mal mit Selenskyj auf einen Kaffee getroffen, um die Probleme aus der Welt zu schaffen?
Seit dem Kriegsanfang habe ich das zigmal versucht, weil von der Hauptstadt viel abhängt. Jeder zehnte Ukrainer lebt in Kiew. Kiew hat eine besondere Funktion als Hauptstadt. Aber leider hatte ich nicht die Gelegenheit, Selenskyj persönlich zu treffen. Wahrscheinlich hat er anderes zu tun. Leider gibt es in dieser Kriegszeit keine Einheit zwischen den politischen Kräften. Heute müssen wir einig sein. Heute müssen wir unsere politischen Ambitionen vergessen. Es geht heute um die Zukunft und die Existenz unseres Landes. In einer solchen Situation politischen Wettbewerb zu betreiben, ist Dummheit.
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Wenn man politische Ambitionen hintanstellt, heißt das ja, dass man politische Ambitionen hat. Haben Sie politische Ambitionen? Wollen Sie Präsident werden?
Das ist eine provokante Frage. Viele Politiker denken über Posten nach. Die Ukraine kann in ein paar Monaten nicht mehr existieren, wenn wir nicht stark werden. Es geht heute nicht um Träume, es muss jetzt um den Wunsch gehen, den Krieg zu gewinnen, den Krieg zu beenden und wieder Frieden zu haben. Danach können wir über politische Ambitionen sprechen. Leider gibt es zu viele Politiker auch in der Zentralregierung, für die auch jetzt die persönlichen Ambitionen viel wichtiger sind als die Interessen des Landes.
Ich habe an der Front mit vielen Soldaten gesprochen, die sehr kritisch über die Regierung urteilen. Wie gefährlich ist die fehlende politische Einheit für die Motivation derer, die an der Front kämpfen?
Ein solcher Wettbewerb destabilisiert die Menschen. Die Agenda muss heute für alle gleich sein. Wir müssen stark und bereit sein zu kämpfen. Spekulationen, ständige Kritik, der Kampf gegeneinander demotiviert die Menschen. Deswegen ist ein großer Teil der Soldaten sauer auf solche Aktivitäten und unzufrieden damit.
Der Munitionsmangel an der Front ist das eine Problem. Das andere ist der Mangel an neuen Rekruten. Wie kann man Menschen motivieren zu kämpfen?
Man muss mit den Menschen sprechen. Jeder muss wissen, wofür er kämpft. Jeder muss wissen, wofür er sein Leben riskiert. Jeder muss für sich selbst die Antwort darauf geben, wo er die Zukunft des Landes sieht. Motivation ist das Wichtigste, was es gibt. Unsere Menschen brauchen eine Vision von ihrem Land. Dass es stark und demokratisch sein soll und wird, dass es für jeden Ukrainer die gleichen Regeln gibt. Ein Land, in dem europäische Werte gelten. Wenn Menschen demotiviert sind, werden sie auch nicht kämpfen, wenn sie eine Waffe in der Hand halten.
Bei Robotyne hat mir ein Soldat gesagt, er würde sich wünschen, dass mehr Prominente sich freiwillig melden und an der Front kämpfen. Musiker, Schauspieler, Sportler, Politiker, Reiche. Diese Leute könnten dann Vorbilder sein und andere motivieren. Was halten Sie von dem Vorschlag?
Er hat recht. Ich bin mindestens zweimal im Monat an der Frontlinie mit unseren Soldaten. 100.000 Bürger unserer Stadt haben sich Uniformen angezogen und Waffen genommen und kämpfen jetzt im Osten und Süden des Landes. Weil Motivation so wichtig ist, nutze ich jede Gelegenheit, an die Frontlinie zu gehen und Unterstützung zu leisten. Unsere Soldaten brauchen sehr viel Hilfe. Deswegen kaufen wir viel Ausrüstung. Moderne Helme, Schutzwesten, Funkgeräte, Drohnen und alles, was die Soldaten brauchen, kaufen wir aus unserem Budget und mit Spendenmitteln. Es ist wichtig, persönlich da zu sein. Sie sollen nicht den Eindruck haben, allein zu sein.
Haben Sie einmal überlegt, die Waffe in die Hand zu nehmen und selbst zu kämpfen?
Ich bin Offizier der Reserve und stamme aus einer Militärfamilie. Ich trage, wenn ich nach vorne fahre, meine Uniform und zeige: Ich bin bereit. Wenn es notwendig ist, bin ich sofort da. Ich habe einen Eid als Soldat geschworen, dass ich mein Leben für mein Land geben werde, wenn es notwendig ist. Aber jetzt im Moment habe ich eine wichtige Funktion in Kiew, die mir von den Bürgern der Stadt übergeben worden ist, die mich zum Bürgermeister gewählt haben. Als die Russen zehn Kilometer vor der Stadt standen, habe ich an der Stadtgrenze in Uniform und mit meiner Waffe in der Hand gestanden und war bereit, meine Stadt zu verteidigen.
Viele Männer im wehrfähigen Alter sind im Ausland. Allein in Deutschland sind es 200.000. Wie kann man diese Leute überzeugen, wieder in die Ukraine zurückzukommen und zu kämpfen?
Wir brauchen Kampagnen, mit denen wir diese Leute überzeugen, freiwillig zu kommen. Man kann niemanden zwingen zu kämpfen. Wenn jemand keine persönliche Verantwortung für sein Land empfindet, ist es sinnlos, ihm eine Waffe in die Hand zu drücken. Deswegen braucht es die politische Einheit, sodass wir eine vereinte Kraft sind, die Regierung, die Soldaten, die Gesellschaft.
Ihre beiden Söhne sind auch in Deutschland. Haben Sie schon mit ihnen darüber gesprochen, ob sie zurückkommen?
Mein Leben und meine Karriere haben es mit sich gebracht, dass meine Kinder im Ausland geboren wurden, dort lebten und aufwuchsen. Und jetzt studieren sie dort. Mein Jüngerer ist gerade erst 19 geworden, er studiert im Moment. Der ältere ist 22, er studiert auch. Das heißt, sie haben die Ukraine nicht wegen des Krieges verlassen. Und ich möchte, dass sie nach ihrem Abschluss sofort hierherkommen.