Kiew. Vitali Klitschko spricht über die schwierigsten Aufgaben als Kiews Bürgermeister, den Horror in seiner Stadt und wie der ihn verändert.
Vitali Klitschko nimmt einen Helm von einem der Schränke in seinem Büro. Er zeigt auf ein klaffendes Loch, das ein Schrapnell geschlagen hat. „Ein Soldat hat mir den geschenkt. Der Helm hat sein Leben gerettet.“ In seinem Büro stehen viele Andenken und Mitbringsel von Besuchern. Darunter ein Chanukkaleuchter, Ikonen, Bücher. Er spricht von der aktuellen Situation der Ukraine im russischen Angriffskrieg und seinen schwierigsten Aufgaben als Bürgermeister Kiews.
Hinter seinem Schreibtisch hängt ein Foto von Walerij Saluschnyj. Der frühere Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte war im Februar vom Präsidenten nach monatelangen Querelen entlassen worden. Er ist ein Freund des Bürgermeisters. Ein Bild von Wolodymyr Selenskyj hängt nicht im Büro Klitschkos. Das Verhältnis zwischen den beiden Männern gilt als zerrüttet. Daraus macht Vitali Klitschko keinen Hehl. Mehr dazu finden Sie im Video unten sowie im zweiten Teil unseres Interviews, den Sie hier lesen können.
Herr Klitschko, seit mehr als zwei Jahren führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Wie ist die aktuelle Situation?
Vitali Klitschko: Vor zwei Jahren haben uns Experten weltweit nur einige Tage oder Wochen gegeben. Es hat die Welt überrascht, dass wir seit zwei Jahren erfolgreich unser Land verteidigen. Selbstverständlich ist die Situation nicht einfach. Man darf die Russen niemals unterschätzen. Sie haben riesige Ressourcen, was das Militär und die Menschen betrifft. Trotzdem: Die Situation ist schwierig, aber nicht kritisch. Sehr viel hängt von der Unterstützung unserer Partner ab, auch von Deutschland.
Die Widerstandsfähigkeit der Ukrainer zu Beginn der Invasion hat die Welt überrascht. Wie ist die mentale Verfassung der Menschen nach zwei Jahren Krieg?
Die Menschen sind müde. Jeder Ukrainer träumt von Frieden und von einem Ende des Krieges. Wir sind müde, aber wir verstehen, dass wir unser Land verteidigen müssen. Wir verteidigen nicht nur unser Territorium, sondern auch unser Recht, in einem freien europäischen Land zu leben. Putin akzeptiert die Ukraine nicht als unabhängiges Land. Er sieht die Ukraine als Teil des russischen Imperiums. Wir wollen nicht zurück in die Vergangenheit, wir sehen unsere Zukunft als Teil der europäischen Familie. Dafür kämpfen wir.
Kiew ist immer wieder Ziel russischer Luftangriffe. Wie groß sind die Schäden mittlerweile?
Die Schäden sind riesig. Nach den zwei Jahren der Luftangriffe haben wir mehr als 800 beschädigte und zerstörte Gebäude, darunter fast 440 Wohnhäuser. Mehr als 200 Menschen sind durch die Luftangriffe ums Leben gekommen, darunter sieben Kinder. Besonders zynisch war es im Winter 2022/2023, als sie versucht haben, unsere kritische Infrastruktur zu zerstören. Das ist Völkermord. Es ist Terror, die größte Stadt in Osteuropa ohne Wasser, Strom und Heizung zu lassen.
Sind sie häufig bei Verletzten in Krankenhäusern oder besuchen die Familien von Hinterbliebenen?
Jede Woche.
Was sagen Sie diesen Menschen?
Zwei Aufgaben in meiner Funktion als Bürgermeister sind die schwierigsten. Das ist einmal, junge Menschen in Krankenhäusern zu besuchen, die schwerverletzt wurden, die ihre Arme oder Beine oder ihr Augenlicht verloren haben. Es ist psychisch schwierig, da Worte zu finden und die Menschen wieder zu motivieren. Noch schwieriger ist es, wenn ich Orden an die Eltern von verstorbenen Söhnen vergeben muss. Ich denke immer wieder darüber nach, welche Worte ich wählen soll. Danke für die Erziehung und Ausbildung der Kinder? Man sieht in den Augen der Eltern, was der Verlust mit ihnen gemacht hat. Aber das ist das, was ich tun muss. Und die Worte finden.
Diese Begegnungen mit den Menschen, die so viel Leid erfahren haben, hat Sie das persönlich verändert?
Dieser Krieg hat jeden Bürger unseres Landes verändert. Früher haben wir es nicht richtig wertgeschätzt, was Frieden bedeutet, was es bedeutet, den Luftalarm nicht zu hören und Stunden und Tage im Luftschutzkeller zu sitzen. Im vergangenen Jahr haben wir in der Stadt mehr als 800 Mal den Luftalarm gehört. Von zwölf Monaten haben die Bürger Kiews nicht weniger als einen im Luftschutzkeller verbracht. Das hat selbstverständlich Auswirkungen auf die Psyche.
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Viele Analysten erwarten im Sommer eine neue russische Großoffensive. Muss sich Deutschland auf einen neuen Zustrom von Flüchtlingen aus der Ukraine einstellen?
Das glaube ich nicht. Ich möchte Deutschland danken, weil es mehr als eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen hat. Für uns wird es eine riesige Herausforderung sein, nach Kriegsende unsere Leute zurückzuholen. Für diese Rückkehr gibt es einige sehr wichtige Voraussetzungen: Es muss Frieden sein. Die Menschen brauchen Arbeitsplätze, gute Gehälter und Lebensqualität. Die Wirtschaft muss wieder gut funktionieren.
In den vergangenen Monaten hatte man das Gefühl, dass sich Verzweiflung breit macht. An den Fronten herrscht ein großer Mangel an Munition. Nach langem innenpolitischem Ringen stellen die USA jetzt ein neues Hilfspaket zur Verfügung. Überwiegt bei Ihnen die Erleichterung oder der Ärger darüber, dass das so lange gedauert hat?
Es gibt natürlich Ärger darüber, dass das so lange gedauert hat. Unsere Soldaten bezahlen mit ihrem Leben, wenn sich Waffenlieferungen verzögern. Natürlich ist der Wille zum Sieg wichtig. Sehr wichtig sind aber auch moderne Verteidigungswaffen. Wir brauchen weitere Hilfe bei der Verteidigung europäischer und demokratischer Werte. Die Verzögerung bei den Waffenlieferungen ist dem Präsidentschaftswahlkampf in den USA geschuldet. Aber ich bin froh, dass wir wieder Unterstützung bekommen.
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Sie haben bereits über die russischen Luftangriffe gesprochen. Die Lagerhäuser in Europa sind voll mit Luftabwehrraketen. Erwarten Sie sich in diesem Bereich mehr Unterstützung?
Wir haben ein Defizit an Luftabwehrsystemen. In Kiew schießen wir feindliche Drohnen in einem engen Radius um die Stadt herum ab. Teile von abgeschossenen Raketen fallen herunter. Der Radius muss deshalb erweitert werden. Die Drohnen und Raketen müssen schon auf ihrem Weg in die Hauptstadt abgeschossen werden können. Wir brauchen mehr Unterstützung bei der Luftabwehr. Ich bin Deutschland dankbar für das Iris-T-System, das sehr gut funktioniert. Aber auch unsere Bürger in Odessa, in Dnipro oder Charkiw brauchen einen guten Schutz.