Berlin. Haushaltspolitiker Johannes Hahn spricht über Probleme des Ukraine-Beitritts, Sorgen um Deutschland – und den Umgang mit Donald Trump.

Der Österreicher Johannes Hahn (66) ist einer der erfahrensten EU-Politiker. Im Interview spricht der Haushaltskommissar über Donald Trump, die Kosten des Ukraine-Beitritts, den erwarteten Rechtsruck im Parlament, von der Leyens Chancen – und die neuen Probleme mit Deutschland.

Herr Kommissar, bei der Europawahl werden Rechtspopulisten und Rechtsextremisten nach Umfragen stark zulegen. Wie sehr macht Ihnen der Rechtsruck Sorgen?

Johannes Hahn: Es gibt in Europa leider eine nationalpopulistische Tendenz, die uns Sorgen machen muss: Die Devise ist nicht „mein Land zuerst“, sondern „mein Land als einziges“, mit Zäunen und geschlossenen Grenzen, was angeblich alle Probleme löst. Das Gegenteil ist richtig. Diese Rechtsaußen-Parteien gefährden mit Abschottungs-Parolen unseren Wohlstand, denn der beruht auf der Offenheit Europas, auf Exporten, auf Internationalität, gerade in Deutschland.

Hat nicht der lange Streit um die richtige Migrationspolitik diese Abschottungs-Tendenz befördert?

Ja. Bei vielen Menschen haben sich die Bilder von 2015 eingebrannt, als Zäune niedergerannt wurden und es schien, als hätte der Staat nicht mehr die Kontrolle. Da gibt es bis heute eine emotionale Abwehr. Ich hoffe, dass der gerade beschlossene Asyl- und Migrationspakt jetzt eine Wende bringt. Wir brauchen organisierte, legale Migration. Wir sind mit Abstand der älteste Kontinent mit gravierendem Arbeitskräftemangel. Da muss etwas passieren, aber natürlich müssen wir entscheiden, wer ins Land kommt.

Hat die EU-Kommission Fehler gemacht, die einzahlen bei Rechtspopulisten?

Vielleicht wollten wir zu viele Dinge gleichzeitig vorantreiben, während in der Bevölkerung eine gewisse Reformerschöpfung herrscht. Aber dazu gab es keine Alternative, weil wir mehrere Krisen gleichzeitig managen mussten. Und der Ukraine-Krieg hat dem Green Deal erst noch richtig den Schub gegeben, weil wir beschleunigt nach Energie-Alternativen suchen mussten. Doch es ist ein Problem, dass Politik in der EU meist nur unter Druck funktioniert. Viele Entscheidungen könnten früher getroffen werden, gelingen aber erst fünf Minuten vor Toresschluss, was der Qualität der Beschlüsse nicht immer gut tut.

Was bedeutet der Aufstieg von Rechtsaußen-Parteien für die Kommission und ihre Präsidentin? Wird Frau von der Leyen trotzdem wiedergewählt?

Die christdemokratische EVP dürfte erneut die stärkste Partei werden und das Vorschlagsrecht haben. Dass Frau von der Leyen von den Mitgliedstaaten wieder nominiert wird, da mache ich mir keine Sorgen. Die Bilanz der Kommission ist gut, Kontinuität an der Spitze wäre gut. Im Parlament wird es nicht einfach sein, zumal die Hälfte der Abgeordneten neu ist, aber ich gehe am Ende von einer konstruktiven Mehrheit aus, auch für die Wahl von der Leyens.

Mit den Stimmen von Rechtsaußen? Oder steht dann noch die Brandmauer?

Die Brandmauer muss nach links und rechts stehen. Ganz rechts gibt es eine fundamentale Ablehnung Europas, da ist eine Kooperation ausgeschlossen.

… Sie meinen die Identitären-Fraktion mit AfD und Le Pens Leuten. Was ist mit der Konservativen-Fraktion, mit den Rechtspopulisten von Italiens Premier Meloni oder mit der polnischen PiS-Partei?

Das muss man differenziert sehen und prüfen, was inhaltlich möglich ist. Entscheidend ist: Wer sich nicht zu den europäischen Grundwerten bekennt, kann kein Partner sein. Bei der Parteifamilie der Europäischen Konservativen gibt es Vernünftige und weniger Vernünftige. Die Arbeit der italienischen Regierung ist für uns alle eine positive Überraschung. Die Zusammenarbeit läuft konstruktiv und weitgehend reibungslos.

Fünf Monate nach der Europawahl wählen die USA den nächsten Präsidenten. Was hat Europa zu befürchten, wenn Donald Trump wieder ins Amt kommen sollte?

Wenn Trump Präsident werden sollte, wird es natürlich nicht leichter – das gilt nicht nur für die Europäer, sondern für die ganze Welt. Aber wir sollten unsere Energie besser darauf verwenden, unsere Schwachstellen so schnell wie möglich zu beseitigen und uns unabhängiger von den USA und anderen Teilen der Welt zu machen. Wir haben uns mit billiger Energie aus Russland, der amerikanischen Sicherheitsgarantie und günstigen Produkten aus Fernost jahrzehntelang sehr komfortabel eingerichtet. Das ist vorbei. Wir brauchen mehr Unabhängigkeit, mehr Souveränität. In den USA gibt es eine Grundtendenz des „America first“, auch ohne Trump. Er hat uns das nur brutal vor Augen geführt.

Der frühere US-Präsident Donald Trump: Sollte er die Präsidentschaftswahl gewinnen, werde es für Europa nicht leichter, sagt Johannes Hahn.
Der frühere US-Präsident Donald Trump: Sollte er die Präsidentschaftswahl gewinnen, werde es für Europa nicht leichter, sagt Johannes Hahn. © AFP | Charly Triballeau

Könnte Europa ausbleibende US-Hilfen für die Ukraine schnell kompensieren?

Ein klares Nein. Deswegen bin ich froh, dass sich meine Überzeugung, dass die US-Unterstützung weiter gehen wird, bewahrheitet hat. Dieses Hilfspaket von 60 Milliarden Dollar ist entscheidend für die Ukraine. Das stärkt nicht nur die transatlantische Allianz, sondern sendet ein klares Signal an Wladimir Putin und andere Aggressoren, dass wir entschlossen sind, die Ukraine und damit unsere europäischen Werte – also Demokratie, Freiheit, territoriale Souveränität und eine regelbasierte Weltordnung – zu verteidigen.

Die Ukraine drängt auf einen EU-Beitritt. Wird die Aufnahme des riesigen, armen Landes nicht enorm teuer für uns?

Die finanzielle Seite bereitet mir die geringsten Kopfzerbrechen. Angenommen, die bestehenden Regeln etwa für die Agrarhilfen und die Strukturförderung werden beibehalten, dann erfordert der Beitritt der Ukraine ein um 20 Prozent höheres EU-Budget.

... hieße grob gerechnet über 200 Milliarden Euro im siebenjährigen Haushaltsrahmen…

Klingt gigantisch, aber das entspricht nur 0,2 Prozent der europäischen Wirtschaftsleistung und das ist sicher machbar. Es geht um ein lohnendes Investment, denn die Ukraine hat wirtschaftlich enormes Potenzial. Das größere Problem ist die Vorbereitung in der EU: Wie treffen wir Entscheidungen, wie sichern wir Rechtsstaatlichkeit? Wie bringen wir den großen Agrarsektor der Ukraine mit unserer Landwirtschaft zusammen? Wir brauchen unabhängig vom Beitritt der Ukraine und der Westbalkan-Länder institutionelle Reformen, etwa Mehrheitsentscheidungen statt Einstimmigkeit in der Außenpolitik. Meine Sorge ist, dass sich einige Länder sehr gut auf den Beitritt vorbereiten, die Auflagen erfüllen und dann sagen wir: Leider nein.

Wann könnte die Ukraine reif für den Beitritt sein?

Das lässt sich nicht absehen. Ein Beitritt unter Kriegsbedingungen ist nicht denkbar. Erstmal kämpft die Ukraine ums Überleben. Alle Beitrittsländer müssen die Reformauflagen erfüllen.

Plant die EU im nächsten Sieben-Jahres-Budget ab 2028 schon mit der Ukraine als Mitglied?

Relevante EU-Beitritte schon 2028 sind unrealistisch. Die Diskussion für diese mittelfristige Planungsperiode beginnen wir gerade. Das Problem ist: Deutschland und andere Länder drängen massiv auf das informelle Ziel, dass das EU-Budget nicht höher als ein Prozent der Wirtschaftsleistung sein darf. Gleichzeitig haben die Mitgliedstaaten schon so viele Wünsche, dass dieser Budgetrahmen nicht einzuhalten ist – wenn man nicht drastisch bei Agrar- und Strukturmitteln kürzen will, wovon ich nicht ausgehe.

Unabhängig von der Erweiterung stellt sich die Frage, was sich die EU künftig leisten will und kann und was nicht. Es wäre gut, wenn die Staats- und Regierungschefs dafür klare politische Zielsetzungen festlegen würden, um dann Finanzbedarf und die Finanzierung zu klären. Warum machen die EU-Staaten nicht mehr gemeinsam? Wenn man in Europa die nationalen Egos ein bisschen herunterschrauben würde, könnten wir mit dem gleichen Geld viel mehr erzielen. Es reicht nicht, in Sonntagsreden die wichtige Rolle Europas in der Welt zu beschwören, und dann auf der Bremse zu stehen, sobald ein nationaler Bedeutungsverlust befürchtet wird.

Wo sollten sich die EU-Staaten zusammentun?

Vor allem bei der Verteidigung gibt es großes Potenzial. In allen Mitgliedstaaten werden jetzt die Verteidigungsbudgets vergrößert, da wäre eine gemeinsame Beschaffung doch dringend geboten: Wir haben 17 verschiedene Panzersysteme, die Amerikaner haben eines. Oder die Marine: Da haben die EU-Staaten 29 unterschiedliche Zerstörer- und Kreuzersysteme. Es ließe sich gemeinsam mit weniger Geld viel mehr erzielen. Wir müssen unsere Möglichkeiten intelligenter nutzen.

Eine Panzerhaubitze 2000 der Bundeswehr bei der Nato-Übung „Griffin Storm“. Wenn die EU-Staaten künftig Panzer und andere Waffen gemeinsam beschaffen würden, könnten sie viel Geld sparen, mahnt EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn.
Eine Panzerhaubitze 2000 der Bundeswehr bei der Nato-Übung „Griffin Storm“. Wenn die EU-Staaten künftig Panzer und andere Waffen gemeinsam beschaffen würden, könnten sie viel Geld sparen, mahnt EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn. © picture alliance/dpa | Kay Nietfeld

Deutschland hat auf EU-Ebene zuletzt immer wieder in letzter Minute wichtige Vorhaben verzögert: Vom Verbrenner-Aus bis zum Lieferkettengesetz. Ein Problem?

Ja, das hat den Betrieb zeitweise gestört. Es ist aber vor allem ein emotionaler Schaden entstanden. Bisher konnte man sich darauf verlassen, dass eine einmal von Rat und Parlament erzielte Einigung auch hält. Sonst funktioniert es ja nicht. Diese Verlässlichkeit hat jetzt leider gelitten. Zwar ist nicht nur Deutschland ein mitunter unsicherer Kandidat geworden, aber als größtes Land hat es natürlich eine besondere Vetomacht.

Beim Wirtschaftswachstum gehört Deutschland zu den Schlusslichtern in der EU. Eine Sorge für Brüssel?

Tatsächlich ist die deutsche Lokomotive ins Stocken geraten. Das sollte nicht so bleiben. Deutschland ist noch immer mit Abstand die stärkste Volkswirtschaft Europas, daher ist es nicht egal, ob sie mit 100 oder 80 Prozent Leistung unterwegs ist.

Sie waren 15 Jahre lange EU-Kommissar. Wie blicken Sie auf die Entwicklung der EU in dieser Zeit?

Wir haben immer wieder bewiesen, dass wir Krisen gut meistern können. Europa ist von allen Kontinenten am besten durch die Pandemie gekommen. Das hat auch seinen Grund, weil wir es gewohnt sind, gemeinsam – EU-Ebene und Mitgliedstaaten – zu handeln. Diese Einigkeit ist auch das Konzept, mit dem es uns auch in Zukunft gelingen wird, den „European Way of Life“ mit den Grundpfeilern Demokratie, Freiheit und Wohlstand zu sichern.