Brüssel/Berlin. Warum die CDU von der Leyen für eine zweite Amtszeit an der EU-Spitze nominiert – trotz magerer Umfragewerte und umstrittener Bilanz.
Ursula von der Leyens Beziehung zur CDU wird von Parteifreunden mit „Status: kompliziert“ beschrieben. Trotzdem hat die Präsidentin der EU-Kommission den wahrscheinlich letzten großen Schritt ihrer Laufbahn am Montag in der Berliner CDU-Zentrale begonnen. Die 65-Jährige verkündete an der Seite von Parteichef Friedrich Merz, dass sie sich für eine zweite Amtszeit als Präsidentin bewerbe und damit gern bis 2029 auf einem der wichtigsten Posten der Europäischen Union weitermachen würde.
Der Vorstand der CDU nominierte sie offiziell als Spitzenkandidatin für die Europawahl im Juni – nur so kann von der Leyen nach den internen Regeln von der Europäischen Volkspartei EVP, dem Dachverband der Christdemokraten, Anfang März zur europaweiten Kandidatin gekürt werden. In den vergangenen fünf Jahren sei nicht nur ihre Leidenschaft für Europa gewachsen, „sondern natürlich auch meine Erfahrung, wie viel dieses Europa für seine Menschen leisten kann“, sagte die Präsidentin. Als einen Erfolg ihrer ersten Amtszeit nannte von der Leyen unter anderem den Kampf gegen die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie und die Förderung von Investitionen in eine saubere und eine digitale Industrie. Parteichef Merz sagte, von der Leyen habe in schwierigen Zeiten Großes geleistet. Sie habe eine hohe Reputation in den Mitgliedstaaten und weit darüber hinaus.
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So freundlich klang der CDU-Vorsitzende nicht immer. Und die Freude über die Nominierung, das weiß Merz, wird keineswegs überall in der Partei geteilt. Von der Leyen hat auch in der CDU bis heute viele Kritiker, die ihren Kurs in der EU-Kommission für grundfalsch halten: zu viel Bürokratie, zu viele Verbote, zu viel Grünen-Politik. Ihre Kandidatur ist für die CDU nicht nur deshalb ein Experiment: Die Präsidentin ist zwar eine der mächtigsten Frauen Europas – aber bei den deutschen Wählern ist sie erstaunlich unbeliebt. Nur 38 Prozent der Wahlberechtigten hierzulande waren mit ihrer Arbeit als Kommissionspräsidentin zufrieden, als Infratest voriges Jahr die Bürger repräsentativ befragte. 53 Prozent äußerten sich unzufrieden.
Das Forsa-Institut ermittelte vergangenes Jahr, dass nur 40 Prozent der Wähler eine weitere Amtszeit von der Leyens gut fänden. Für die Union alarmierend: Selbst bei den Anhängern von CDU und CSU befürworten nur 51 Prozent, dass sie weitere fünf Jahre die Kommission führt. Neuere Umfragen liegen nicht vor – aber nichts spricht für die Annahme, dass sich die Stimmung gedreht hätte, eher im Gegenteil.
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„Die Wahl von der Leyens war ein strategischer Fehler“
Für von der Leyen sind die schlechten Befunde nichts Neues, die siebenfache Mutter macht mit ungewöhnlicher Zähigkeit einfach immer weiter. Schon ihren überraschenden Wechsel nach Brüssel 2019 quittierte eine Mehrheit der Deutschen mit Misstrauen bis Ablehnung. Kurz zuvor war ihr Ansehen als Verteidigungsministerin im Zuge einer Berater-Affäre auf einen Tiefpunkt gestürzt: Zwei Drittel der Bundesbürger waren mit ihrer Arbeit unzufrieden.
Vielen in der CDU ist von der Leyen bis heute fremd. Ihren mitunter eigensinnigen Kurs empfand mancher in der CDU-Spitze als illoyal; als Teamspielerin gilt sie auch in Brüssel nicht. Unter den deutschen Unionsabgeordneten im EU-Parlament polarisiert die Niedersächsin: „Sie hat uns gut durch die Pandemie geführt und zeigt klare Kante für die und gegen den russischen Aggressor“, sagt CDU-Umweltexperte Peter Liese. Sein Fraktionskollege Markus Ferber, ein Wirtschaftsfachmann von der CSU, bilanziert dagegen bitter: „Die Wahl von der Leyens war ein strategischer Fehler.“
Die Christdemokraten im EU-Parlament haben immer weniger Geduld mit von der Leyen, sie bremsen Vorstöße vor allem zur Umweltpolitik zunehmend aus und wollen in der nächsten Wahlperiode einen Kurswechsel erzwingen. Mit Wohlwollen von Merz, der längere Zeit ein Kritiker der Präsidentin war. Von der Leyen war bereits zwei Jahre im Amt, als Merz eine ihrer wichtigsten Initiativen rügte: „Rückblickend war es ein Fehler, den Kauf von Corona-Impfstoffen in vollem Umfang der EU-Kommission zu überlassen“, schimpfte Merz. Den von der Kommission verwalteten Corona-Wiederaufbaufonds, aus dem die Präsidentin gern öffentlichkeitswirksam Milliarden-Schecks verteilt, kritisierte er als Schritt hin zu einer „Schuldenunion“, das sei eine „reale Gefahr“.
Merz beklagte „eine Dynamik in Brüssel, immer mehr Macht zur EU zu ziehen“. Ein anderes Mal geißelte er ein Kernstück der ambitionierten Klimapolitik von der Leyens: Mit der CO2-Grenzsteuer, die klimaschädliche Produkte aus China oder Indien verteuern soll, beginne ein neuer Welthandelskonflikt. Der „Unsinn“, der „leider unter Führung einer deutschen Kommissionspräsidentin geplant wird“, müsse verhindert werden.
CDU stellt sich hinter von der Leyen – sonst kommen die Grünen zum Zug
Der Wirtschaftsflügel der Union ist ohnehin regelmäßig entsetzt über die zusätzlichen „bürokratischen Fesseln“ und die wirtschaftsfernen Beschlüsse der amtierenden Kommission. Jetzt muss die Union zusehen, wie die FDP ihr bei diesem Thema Wähler abjagen will: „Mit von der Leyen hat eine CDU-Politikerin aus dem faszinierenden Freiheitsprojekt EU eine Bürokratie-Drohung gemacht“, probt FDP-Chef Christian Lindner bereits den Kampagnen-Sound.
Ähnliche Töne kommen aus der Wirtschaft. Der Verband der Familienunternehmen erklärte am Montag: „Von der Leyen ist zum Gesicht für exzessiven Bürokratismus geworden.“ Europa verliere als Standort gerade massiv an Wettbewerbsfähigkeit, das sei zu großen Teilen hausgemacht: „Statt schlanke europäische Lösungen zu präsentieren, hat die Kommission überall noch mehr Berichtspflichten und Verbote eingeführt“, sagte Verbandschefin Marie-Christine Ostermann. Die Politik gegen Wachstum, Wohlstand und Unternehmen und die „überbordende bürokratische Drangsalierung“ sei der Nährboden für eine Anti-Stimmung gegen Brüssel und schüre das Verhetzungspotential gegen die Europäische Union.
Dass die CDU-Führung von der Leyen trotzdem nach außen kritiklos unterstützt, liegt an der Alternative: Die Ampelkoalition hat im Koalitionsvertrag vereinbart, dass die Grünen den nächsten EU-Kommissar vorschlagen dürfen, „sofern die Kommissionspräsidentin nicht aus Deutschland stammt“. Als Favorit bei den Grünen gilt der Chef des Europaausschusses im Bundestag, Anton Hofreiter, für viele Unionspolitiker eine Schreckensvorstellung. Die CDU kommt nur mit von der Leyen zum Zuge oder gar nicht – wird sie nominiert, stehen ihre Chancen auf eine zweite Amtszeit recht gut. Parteichef Merz ist deshalb mit von der Leyen vor einem Jahr ein Bündnis eingegangen, das bis heute hält.
Europäische Union: Die Skepsis der Deutschen ist groß
Es fügt sich für die Union aber, dass von der Leyens Name bei der Wahl am 9. Juni auf keinem Wahlzettel stehen wird. Sie kandidiert ja gar nicht für das EU-Parlament. Merz dürfte alles daran setzen, die Europawahl zur innenpolitischen Abrechnung mit der Ampel-Koalition zu machen – eigentlicher Gewinner dieser Denkzettel-Abstimmung würde natürlich nicht von der Leyen, sondern der Parteichef, sofern ihm nicht noch die AfD einen Strich durch die Rechnung macht.
Aus Sicht der Wahlkämpfer wäre mit bloßem Pro-Europa-Kurs viel weniger zu holen. Das zeigt etwa eine Infratest-Umfrage: Im Juli 2020, von der Leyen war erst ein gutes halbes Jahr im Amt, sagten noch 40 Prozent der Deutschen, die EU biete eher Vorteile als Nachteile. Drei Jahre später war dieses Lager auf 24 Prozent zusammengeschrumpft. Ausgerechnet in der Amtszeit der deutschen EU-Präsidentin also ist die Skepsis der Deutschen gegenüber der EU deutlich gewachsen.