Frankfurt/Main. Viele Menschen können sich nicht vorstellen, später in Rente zu gehen. Der Bundesbank-Chef erklärt, warum er den Schritt für nötig hält.

  • Joachim Nagel ist seit 2022 Präsident der Bundesbank und damit Deutschlands oberster Währungshüter
  • Im Interview erklärt er, wann die Menschen bis 69 arbeiten sollten und warum die Rente mit 63 schädlich ist
  • Außerdem sagt Nagel voraus, wie teuer der Urlaub wird – und wann die Zinsen endlich wieder sinken

Wie bleibt der Euro stabil? Um diese Frage kreist die Arbeit von Joachim Nagel, Präsident der Deutschen Bundesbank. Im Interview mit unserer Redaktion prognostiziert Nagel, wann Deutschland die Inflation überwunden hat - und wie sicher der digitale Euro wird.

Ärgern Sie sich, wenn Sie im Café oder Restaurant nur noch mit Karte zahlen können?

Joachim Nagel: Ärgern nicht. Es gibt mir Anlass zum Nachdenken, wie das Bezahlen in der Zukunft aussieht.

Bargeld ist auf dem Rückzug.

Nagel: Die elektronischen Zahlungsmöglichkeiten nehmen zu, und bei jungen Menschen spielt Bargeld eine geringere Rolle. Aber wir werden auch künftig bar zahlen können. Bargeld wird nicht verschwinden. Studien zeigen, dass die Deutschen durchschnittlich so um die 100 Euro in ihrem Portemonnaie haben. Ich selbst fühle mich auch wohler, wenn ich Bargeld bei mir habe. Es gibt mir Sicherheit. Da bin ich unabhängig von elektronischen Zahlungssystemen, die auch mal ausfallen können.

Jetzt soll der digitale Euro kommen. Was versprechen Sie sich davon?

Nagel: Ich bin überzeugt: Der digitale Euro wird ein Erfolg. Dafür bringt er alle Voraussetzungen mit. Sie werden damit schnell und bequem per App auf dem Mobiltelefon zahlen können – und auch offline. Der digitale Euro soll ein gesetzliches Zahlungsmittel werden. Transaktionen werden für den Handel kostengünstiger als bei den bisher gängigen elektronischen Zahlungsmitteln. Und die Privatsphäre erhält höchstmöglichen Schutz. Wegen des digitalen Euro muss niemand den gläsernen Kunden fürchten.

Wie sicher ist die digitale Währung vor Hackern und Cyberangriffen?

Nagel: Es ist auch für Zentralbanken eine wichtige Aufgabe, Angriffe auf ihre IT-Systeme abzuwehren. Dabei müssen wir uns bewusst sein, dass es eine hundertprozentige Sicherheit nicht geben wird. Gerade deshalb arbeiten wir fortlaufend daran, unsere IT-Sicherheit zu optimieren.

Beim digitalen Euro können wir selbst mehr Sicherheitsmaßnahmen ergreifen als bei vielen anderen Projekten. Denn die technische Infrastruktur wird in Europa stehen. Wir in der Bundesbank wollen unseren Beitrag zum digitalen Euro leisten, wir nehmen hier eine starke Rolle ein. Insofern werden wir einen digitalen Euro mit einer Portion „Made in Germany“ sehen.

Wie lange dauert es noch bis zur Einführung?

Nagel: Ich bin zuversichtlich, dass wir den digitalen Euro in vier bis fünf Jahren haben.

Was ist der Euro bis dahin wert? Wie entwickelt sich die Inflation?

Nagel: Da gibt es eine sehr erfreuliche Nachricht: Wenn sich die Rahmenbedingungen nicht verschlechtern, wird die Inflationsrate in Deutschland in diesem Jahr weiter zurückgehen. Im Jahresdurchschnitt wird die Inflation um die zweieinhalb Prozent liegen. 2025 erreichen wir im Euroraum unsere Zielrate von zwei Prozent.

Erwarten Sie durchgehend stabile Preise?

Nagel: Es bleiben Unterschiede. Die Energiepreise sind gesunken und bewegen sich aktuell mehr oder weniger seitwärts. Deutschland hat bei der Bewältigung der Energiekrise einen guten Job gemacht. Die Lebensmittelpreise steigen nicht mehr so stark an. Schwieriger ist der Dienstleistungssektor einschließlich der Gastronomie. Hier sind die Preissteigerungen noch relativ hoch.

Geringste Inflationsrate seit Sommer 2021: Weiterer Rückgang erwartet

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    Wie teuer wird der Urlaub?

    Nagel: Über Ostern dürften die Urlaubspreise tendenziell höher liegen als im Vorjahr. Im weiteren Verlauf des Jahres dürfte aber auch der Preisanstieg bei Pauschalreisen deutlich nachlassen. Insgesamt sind die Sorgen, die uns die Inflation bereitet, erheblich geringer geworden.

    Wann sinken die Zinsen? Der Leitzins der Europäischen Zentralbank ist seit Monaten auf dem Rekordniveau von 4,5 Prozent.

    Nagel: Der EZB-Rat hat zehn Zinserhöhungen beschlossen – das war angemessen und zeigt Wirkung. Zuletzt hat die Wahrscheinlichkeit zwar zugenommen, dass wir vor der Sommerpause die Leitzinsen senken. Aber damit wir so entscheiden, müssen wir uns sicher genug sein, dass die Inflation tatsächlich weiter zügig sinkt. Die Wirtschaftsdaten, die in der nächsten Zeit eingehen, spielen dafür eine besondere Rolle.

    Die hohen Zinsen haben der Bundesbank 2023 einen Rekordverlust von 21,6 Milliarden Euro beschert. Wie lange wird es dauern, bis Sie wieder Geld in den Bundeshaushalt überweisen?

    Nagel: Wir sind eine Zentralbank und keine Geschäftsbank. Unser Auftrag ist Preisstabilität. Die Verluste werden in diesem Jahr nochmal hoch sein, in den kommenden Jahren dann geringer. Wir werden die Verluste bilanziell vortragen. Und wenn wir dann in einigen Jahren wieder Gewinne machen, werden wir zunächst die angesammelten Verluste abbauen und anschließend unsere Risikovorsorge auffüllen. Das Finanzministerium wird wohl längere Zeit warten müssen, bis wir wieder Gewinne überweisen können.

    Lassen Sie uns über die deutsche Wirtschaft sprechen. Die großen Unternehmerverbände schlagen Alarm – und stellen der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung ein vernichtendes Zeugnis aus. Liegen sie damit so falsch?

    Nagel: Natürlich bin auch ich nicht zufrieden, wenn die Wirtschaft in diesem Jahr nur auf der Stelle tritt. Blicken wir differenziert auf die Lage, dürfen wir aber nicht ausblenden, dass wir aus einer Sondersituation kommen. Deutschland als große, offene Volkswirtschaft war besonders stark betroffen vom russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine – Stichwort Gaspreis. Und aktuell spielt die schwache Auslandsnachfrage eine große Rolle. Dabei sollten wir auch nicht vergessen, dass der Arbeitsmarkt stabil geblieben ist. Deutschland hat fast Vollbeschäftigung.

    Der Gaspreis war nach dem Überfall auf die Ukraine in die Höhe geschnellt.
    Der Gaspreis war nach dem Überfall auf die Ukraine in die Höhe geschnellt. © picture alliance / Daniel Reinhardt/dpa | Daniel Reinhardt

    Führen Sie die Wachstumsschwäche gar nicht auf Schlechtleistung der Ampel zurück?

    Nagel: In den rund 20 Jahren, in denen ich insgesamt in der Bundesbank arbeite, hat sich praktisch jeder Unternehmerverband über jede Bundesregierung beschwert. Ich will die enormen Herausforderungen nicht kleinreden. Aber wir sollten die Lage nicht schlechter reden, als sie in Wirklichkeit ist. Sonst kommt niemand nach Deutschland und investiert. Wir sind nicht der kranke Mann Europas.

    Kritik kommt nicht nur von den Wirtschaftsverbänden. Selbst der Bundesrechnungshof geißelt die Energiepolitik der Bundesregierung.

    Nagel: Bei der Energiepolitik muss nachjustiert werden, und das geschieht ja auch. Die Menschen und die Unternehmen benötigen mehr Klarheit, wie die Energiewende und die damit verbundenen Herausforderungen bewältigt werden. Dabei muss etwa der Ausbau der Erneuerbaren Energien und der Stromnetze schneller vorangehen. In diesem Bereich haben wir bei der Infrastruktur großen Nachholbedarf.

    Welchen Schaden richten die Streiks von Lokführern und Piloten an?

    Nagel: Je länger die Streiks anhalten, desto größer werden die volkswirtschaftlichen Kosten. Tarifverhandlungen sind aber eine Sache zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften. Das ist eine der Stärken unseres Wirtschaftsstandorts – und sollte es auch bleiben. Ich erwarte, dass die Probleme hier zügig am Verhandlungstisch gelöst werden – in unser aller Interesse.

    Die Ampel hat ein Wachstumschancengesetz und ein Bürokratieabbaugesetz auf den Weg gebracht. Fallen die Maßnahmen ambitioniert genug aus, um die Konjunktur anzukurbeln?

    Nagel: Über das Ambitionsniveau kann man immer streiten. Gerade das Wachstumschancengesetz enthält geringere Steuerentlastungen als ursprünglich geplant. Beim Abbauen von Bürokratie und Beschleunigen von Verfahren ist immer noch Luft nach oben. Wichtig ist jetzt aber, das Wachstumschancengesetz tatsächlich umzusetzen.

    Insgesamt wünsche ich mir mehr Kompromissbereitschaft. Wir brauchen eine gemeinsame, starke Antwort für den Wirtschaftsstandort. Nur so kommt Deutschland weg von den hinteren Plätzen bei den Wachstumsraten. Leider sind wir auch noch bei einem anderen Thema gefordert.

    Nämlich?

    Nagel:Russlands fürchterlicher Angriffskrieg gegen die Ukraine verursacht Tag für Tag Leid und Zerstörung. Er hat auch dazu geführt, dass wir nun viel Kraft darauf verwenden, Rüstungskapazitäten aufzubauen, Waffen zu produzieren, Munition bereitzustellen.

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    Kriegstüchtig werden – so nennt es Verteidigungsminister Pistorius. Woher soll das Geld dafür kommen?

    Nagel: Wir brauchen ohne Frage eine starke Bundeswehr. Das im Grundgesetz verankerte, schuldenfinanzierte Sondervermögen hilft dabei, Rückstände aufzuholen. Aber letztlich müssen laufende Ausgaben aus dem Kernhaushalt finanziert werden.

    Halten Sie es für erforderlich, das Grundgesetz zu ändern, um die Schuldenbremse zu lockern?

    Nagel: Die Bundesbank hat stets betont, wie wichtig solide Staatsfinanzen sind. Dazu leistet die Schuldenbremse einen bedeutsamen Beitrag. Aber wir könnten uns in bestimmten Phasen auch etwas höhere Defizite leisten, ohne die Stabilität zu gefährden. Das ist aus unserer Sicht gegeben, wenn die staatliche Schuldenquote unter 60 Prozent der Wirtschaftsleistung liegt. Die zusätzlichen Spielräume können dann für Zukunftsinvestitionen genutzt werden. Ich kann mir daher unter bestimmten Voraussetzungen eine moderate Reform der Schuldenbremse vorstellen.

    Der Staat könnte auch sparen – etwa im ausufernden Sozialhaushalt.

    Nagel: Es ist Aufgabe der Politik, Prioritäten zu setzen. Wir müssen uns alle Ausgaben anschauen – ob im Sozialetat oder in anderen Haushaltsbereichen. Möglicherweise können wir auch die eine oder andere Subvention einsparen.

    Können wir uns ein Vorruhestandsprogramm wie die Rente mit 63 noch leisten?

    Nagel: Die unbequeme Botschaft lautet: Wenn die Lebenserwartung steigt, müssen die Menschen länger arbeiten, nicht kürzer.

    Die Rente mit 63 hat sich überlebt?

    Nagel: Wir haben einen Mangel an Arbeitskräften, und der wird sich demografisch verschärfen. Die Zwänge werden größer, wenn wir den frühzeitigen Ruhestand fördern.

    Welches gesetzliche Rentenalter halten Sie für angemessen?

    Nagel: Wenn wir länger leben, sollte auch das Rentenalter nach einem festen Schlüssel steigen. Ein Teil der zusätzlichen Jahre könnte gearbeitet und der Rest in Rente verbracht werden. Ich bin auch hier für Planbarkeit. Hält man das Verhältnis von Rentenjahren zu Arbeitsjahren konstant, könnte das Rentenalter dann bis 2070 nach und nach auf 69 Jahre steigen. Auf diese Weise ließe sich der Fachkräftemangel lindern und das langfristige Wachstum stützen.

    Die Rente mit 69 Jahren könnte ab den Geburtsjahrgängen nach 2000 kommen.
    Die Rente mit 69 Jahren könnte ab den Geburtsjahrgängen nach 2000 kommen. © Getty Images | simonkr

    Wie wirkt sich der Aufstieg des Rechtsextremismus in Deutschland auf die Wettbewerbsfähigkeit aus?

    Nagel: Mich persönlich sorgt das als Bürger dieses Landes sehr. Deshalb habe ich kürzlich in Frankfurt zum ersten Mal in meinem Leben an einer Kundgebung für die Demokratie teilgenommen. Rechtsextremisten schrecken außerdem Investoren und Fachkräfte aus dem Ausland ab. Das bedroht unseren Wohlstand. Ich appelliere an alle, die Gefahr des Rechtsextremismus nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.

    Stellen wir uns kurz vor, die AfD käme an die Macht. Welche Folgen hätte das für unsere Währung?

    Nagel: Es geht mir nicht um Parteien. Wenn allerdings von einem Austritt Deutschlands aus der Währungsunion oder der EU fabuliert wird, dann kann ich nur warnen. Ein Austritt wäre für uns alle eine wirtschaftliche Katastrophe. Die EU und die Währungsunion sind ein Grundpfeiler unseres Wohlstands.

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