Brüssel. Militärexperten warnen: Russland verlässt sich immer mehr auf sein Atomarsenal. Wie bedrohlich ist das? Wen würde Putin wie angreifen?
Der russische Präsident Wladimir Putin droht immer wieder mit dem Einsatz von Atomwaffen. Militärexperten und Geheimdienste warnen: Solche Drohungen werden sogar noch zunehmen. Was steckt dahinter? Wie groß ist die Bedrohung für Europa? Welche Atomwaffen hat Russland? Ist sein Arsenal wirklich das modernste? Und wann muss die Ukraine die Atombombe fürchten?
Putins Atomarsenal – das größte weltweit
Russland verfügt mit 5600 Sprengköpfen über das größte Atomwaffenarsenal weltweit. Es ist noch um einige Hundert Sprengköpfe größer als das der USA und auch etwas vielfältiger. 4380 Sprengköpfe sind sofort oder zügig einsetzbar (auf US-Seite 3700). So die neuesten Daten, kürzlich veröffentlicht im jährlichen Bulletin amerikanischer Atomwissenschaftler. Das Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri nennt ähnliche Zahlen. Russland ist ebenso wie die USA zu jeder Zeit in der Lage, mit Atomwaffen alle Ziele auf der Welt zu erreichen und ein nukleares Inferno anzurichten.
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Die russische Armee hat bereits 95 Prozent der nuklearen Triade aus strategischen Bombern, land- und seegestützten Interkontinentalraketen modernisiert, die Waffen aus Sowjetzeiten sind fast alle ausgetauscht – während ein umfassendes Erneuerungsprogramm der USA noch läuft (mit der neuen Interkontinentalrakete Sentinel, B21-Raider-Bombern, Raketen-U-Booten, B61-Atombomben).
Das sind Putins strategische Atomwaffen
Russland hat laut dem amerikanischen Atom-Bulletin für den schnellen Einsatz 1710 strategische Atomwaffen mit hoher Zerstörungswirkung und für weitreichende Ziele auch in 10.000 bis 15.000 Kilometer Entfernung – also auch in den USA. Die strategischen Atomwaffen sind teilweise sofort abschussbereit und bilden das Rückgrat der Abschreckungsstrategie, daher der Name.
870 der Sprengköpfe sind laut Atom-Bulletin vorgesehen für ballistische Raketen aus festen Silos in Zentral- und Südrussland oder von Lkw-Rampen (auch weiter westlich in Russland), 640 Sprengköpfe können von zwölf Atom-U-Booten abgeschossen werden. 200 Sprengköpfe sind schließlich einsatzbereit für Langstreckenbomber, die auf zwei Basen in Südwest- und Ostrussland stationiert sind (Engels und Ukrainka).
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Die Waffen haben sehr unterschiedliche Sprengkraft – die Interkontinentalrakete SS-18, im Nato-Code wegen ihrer Zerstörungswirkung als „Satan“ bezeichnet, kann zehn Sprengköpfe tragen, jeder mehr als 50 Mal so stark wie die Hiroshima-Bombe. Sie ist an zwei Standorten in Südrussland deponiert. Dieser Raketentyp wird jetzt durch neue Sarmat-Raketen ersetzt, deren Mehrfachsprengköpfe unabhängig zielprogrammierbar sind – im russischen Fernsehen prahlt die Armee mit der Entwicklung und behauptet, von Kaliningrad erreiche Sarmat Berlin in 1:46 Minuten und London in 3:22 Minuten. Sarmat kann wohl auch den Avangard-Hyperschallgleiter transportieren, der Abwehrsysteme umgehen soll. Weitere Modernisierungsprojekte betreffen etwa den Unterwasseratomtorpedo Poseidon und den Marschflugkörper Burewestnik.
Taktische Waffen: Gefahr für Westeuropa
Russland hat zudem laut US-Wissenschaftlern geschätzt 1560 taktische Atomwaffen mit geringerer Sprengkraft und kürzeren Reichweiten, auch für den Einsatz auf dem Gefechtsfeld – also in Europa und gegebenenfalls auch im Ukraine-Krieg. Die genaue Zahl dieser Atomwaffen ist unter westlichen Fachleuten umstritten, Schätzungen reichen bis zu 2000, mit steigender Tendenz. Sie können von Land etwa mit Iskander-Raketen eingesetzt werden, aber auch von Flugzeugen und von Schiffen. Einige der taktischen Atomwaffen sind jetzt offenbar auch in Belarus stationiert. Noch weiter westlich, in der russischen Enklave Kaliningrad, stehen Iskander-Raketen und wohl auch schon Atomsprengköpfe – mit einer Reichweite von 500 Kilometern könnten die Atomraketen zum Beispiel auch Berlin in wenigen Minuten erreichen.
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Allerdings müssten die taktischen Atomwaffen erst aus zentralen Depots geholt und für den Abschuss von Flugzeugen, Raketen oder Marschflugkörpern vorbereitet werden – was westlichen Geheimdiensten, die die Anlagen ständig im Blick haben, nicht verborgen bleiben dürfte, sodass eine Vorwarnzeit besteht. Aber Militärbeobachter warnen: Eine einzige Atombombe unbemerkt vorzubereiten und dann zu Demonstrationszwecken überraschend zu zünden, könnte den Soldaten der speziellen Atomeinheiten durchaus gelingen.
Wann setzt Putin Atomwaffen ein?
Russland habe wie die Sowjetunion ein grundlegend anderes Verständnis von Kernwaffen, erläutert der Sicherheitsexperte und frühere Nato-Forschungsdirektor Karl-Heinz Kamp von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP): „In Moskaus Augen waren Atomwaffen stets ein einsetzbares militärisches Machtinstrument, das im breiten Spektrum der Mittel zur Kriegsführung seinen festen Platz hat.“ Atomwaffen spielten „eine fundamentale Rolle in Russlands Abschreckungsstrategie“, heißt es auch in einer neuen Studie des unabhängigen US-Sicherheitsforschungsinstituts CSIS. Sie sollten die Unterlegenheit der konventionellen Streitkräfte gegenüber der Nato kompensieren und würden als ultimativer Sicherheitsgarant gelten.
Die aktuelle Militärdoktrin Moskaus von 2020 sieht den Einsatz vor, wenn Russland mit ballistischen Raketen, Atomwaffen oder anderen Massenvernichtungswaffen angegriffen wird, die nukleare Kommandostruktur attackiert wird oder ein konventioneller Angriff die Existenz Russland bedroht. Das lässt Spielraum. Möglicherweise glaube Putin, eine Niederlage im Ukraine-Krieg stelle eine Bedrohung seines Regimes dar und rechtfertige deshalb einen Einsatz, so die CSIS-Studie. Ältere, jetzt bekannt gewordene Moskauer Geheimdokumente legen ohnehin nahe, dass die taktischen Atomwaffen auch früher zum Einsatz kommen könnten. Experten sind sich einig, dass Putin künftig noch stärker mit den Atomwaffen droht.
Der Atomforscher Hans Kristensen schreibt in dem neuen Bulletin: „Die schlechte Performance und der Verlust von erheblichen Teilen der konventionellen Streitkräfte im Ukraine-Krieg werden wahrscheinlich Russland noch stärker auf seine Atomwaffen stützen lassen.“ Vor allem die Bedeutung taktischer Atomwaffen werde noch zunehmen. Auch Sicherheitsexperte Karl-Heinz Kamp erklärt: „Russlands Kernwaffen werden künftig noch mehr als in der Vergangenheit als Ausgleich für fehlende konventionelle Fähigkeiten gelten und damit an Bedeutung gewinnen.“ Moderne Raketen und Marschflugkörper würden vermutlich teilweise mit Atomsprengköpfen ausgestattet, das Arsenal der taktischen Kernwaffen dürfte vergrößert werden. Der Weg der Eskalation zur nuklearen Ebene könnte damit verkürzt werden: „Nukleare Drohungen dürften häufiger ausgesprochen werden“, fürchtet Kamp.
Putins Atomdrohungen: Das steckt dahinter
Die Drohungen sind Teil einer – bisher erfolgreichen – Strategie, um den Westen von einer direkten Intervention in der Ukraine abzuhalten. Außerdem zielen sie darauf, die westliche Unterstützung für die Ukraine zu begrenzen und Angriffe gegen Russland und die Krim zu verhindern. Deshalb ließ Putin gleich zu Beginn des Krieges die Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzen. Westliche Militärexperten sind sich aber einig, dass ein Atomwaffenangriff auf die Nato weitgehend auszuschließen ist. Eine aktuelle gemeinsame Bedrohungsanalyse der US-Geheimdienste kommt zu dem Urteil: „Russland will mit ziemlicher Sicherheit keinen direkten militärischen Konflikt mit US- und Nato-Streitkräften.“
Zündet Russland Atombombe im Ukraine-Krieg?
Unwahrscheinlich, aber westliche Geheimdienste schließen es nicht aus. Russland hat im Ukraine-Krieg schon wiederholt Waffen eingesetzt, die auch mit Atomsprengköpfen bestückt werden könnten – Iskander- und Kinschal-Raketen sowie Marschflugkörper von Land und See. Die Analyse der zwei Kriegsjahre zeigt, dass der Kreml die Drohungen immer dann verstärkte, wenn Rückschläge im Ukraine-Krieg drohten – besonders stark nahmen sie im Sommer und Herbst 2022 zu. Damals befürchtete die US-Regierung ernsthaft einen russischen Atomwaffeneinsatz, der als „schmutzige Bombe“ der Ukraine untergeschoben werden sollte: Als US-Präsident Joe Biden öffentlich Alarm schlug und den Kreml über Geheimkanäle warnen ließ, die USA werde mit einem massiven konventionellen Militäreinsatz in der Ukraine reagieren, lenkte Putin ein. Das Problem: Der Vorfall könnte sich wiederholen.
Russland dürfte die Drohungen intensivieren, die Gefahr einer Eskalation könnte zunehmen, wenn die Armee in der Ukraine eine ähnliche Situation erneut erlebe, so die CSIS-Studie. „Russlands Atomdrohungen müssen ernst genommen werden, wenn seine Truppen kollabieren sollten oder der Konflikt sich erheblich verändert.“ Auch die neue gemeinsame Analyse der US-Geheimdienste, die der Direktor der nationalen Nachrichtendienste veröffentlicht hat, sagt voraus, Moskau werde sich angesichts der ausgedehnten Verluste bei seinen Bodentruppen stärker auf seine nuklearen Fähigkeiten verlassen: „Russlands Unfähigkeit, schnelle und entscheidende Siege auf dem Schlachtfeld zu erzielen, gepaart mit ukrainischen Angriffen innerhalb Russlands, schürt weiter die Sorge, dass Putin Atomwaffen einsetzen könnte“, warnen die US-Geheimdienste.