Berlin/Frankfurt. Ein Amt, das wenige kennen, bastelt an einem riesigen Projekt: eine Deutschland-Simulation in „in bisher unerreichter Genauigkeit“.

Paul Becker präsentiert ein düsteres Szenario: Auf einer Karte zeigt er die Nachbarschaft um die Heyestraße in Düsseldorf. Sie ist geflutet, bis zu vier Meter strömt das Wasser in Massen über den Asphalt, läuft in die Keller, Wohnhäuser und Gärten. Die Flüsse sind über die Ufer getreten, der Regen ist so stark, es gießt 90 Millimeter pro Stunde auf den Quadratmeter. Ein extremes Ereignis – aber kein unwahrscheinliches angesichts der wachsenden Gefahr durch den Klimawandel.

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Auf der digitalen Karte, die Becker auf seinen Bildschirm wirft, kann er sehen, wo das Wasser in Düsseldorf hinfließt, haargenau bis auf die Hausnummer jeder Straße. Blaue Flecken zeigen die Höhe, rote und orange Felder die Geschwindigkeit, mit der die Massen durch die Straßenzüge strömen. Das Tempo der Flut ist wichtig, denn es entscheidet mit, wie hoch der Schaden ist, den das Wasser anrichten kann.

Beckers Flut aber richtet keine Schäden an, sie steigt gerade nur virtuell, auf dem Bildschirm seines Computers. Aber ein extremes Hochwasser in der Region hat es tatsächlich gegeben, im Sommer 2021, als weite Teile im Südwesten der Republik betroffen waren und fast 200 Menschen starben.

Der „digitale Zwilling Deutschlands“ soll eine animierte Deutschlandkarte werden

Becker legt noch eine Grafik über seine virtuelle Karte, sie zeigt die Wasserhöhe damals. Die Karten sind fast deckungsgleich, Beckers Simulation und die tatsächliche Flut. Und deshalb treibt Becker ein Gedanke an: Mithilfe der Berechnungen, die er anstellen könne, mit der Simulation, ließen sich „viele Katastrophen besser bewältigen“, sagt er. „Und so Menschenleben schützen.“

Die Ruine eines bei der Flutkatastrophe im Sommer 2021 zerstörten Hauses in Mayschoß.
Die Ruine eines bei der Flutkatastrophe im Sommer 2021 zerstörten Hauses in Mayschoß. © Boris Roessler/dpa | Unbekannt

Paul Becker, der Mann, der solche Katastrophen bald vorhersagen will, mit einer Genauigkeit bis in kleine Straßenecken, ist Chef in einem Amt, das nur wenige Menschen kennen: das Bundesamt für Kartografie und Geodäsie (BKG) mit Sitz in Frankfurt. Das Amt sammelt Daten über Deutschland, die Geografie, die Umwelt, die Infrastruktur. Ohne Beckers Leute würden die Navis in den Autos nicht verlässlich funktionieren. Und wer noch gedruckte Landkarten mag, kann sie bei dem Amt kaufen.

Beckers Herzensangelegenheit aber ist das, was er einen „Digitalen Zwilling Deutschlands“ nennt. Es soll eine animierte Karte von Deutschland werden, quasi in Echtzeit, mit allen Bergen und Tälern, mit Strommasten, Tunneln und Kreuzungen, mit Kitas und Kliniken, mit Postfilialen und Polizeistationen. Alles in 3D, „in bisher unerreichter Genauigkeit“, wie Becker sagt.

Es ist ein Projekt, das auch eine Achillesferse deutscher Politik flicken könnte

Doch nicht nur das: Einfließen sollen eben auch Wetterdaten oder Angaben über Pollenflut – Wissen, das Allergikern helfen kann. Eingezeichnet werden auch die Vegetation und die Bodenbeschaffenheit, und das, was Bauern auf ihren Feldern anbauen. Genau diese Daten sind es, die in Flutgebieten entscheidendes Wissen darüber sein können, wie viel Wasser die Erde in der Region aufnehmen kann.

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Es ist ein Projekt, das eine Achillesferse deutscher Politik flicken könnte: den Katastrophenschutz. Die Flut im Ahrtal 2021 hat deutlich gemacht, wie wenig koordiniert Meldesysteme in Deutschland funktionieren, wie stark das Wirrwarr an Kompetenzen ist. Und wie unvorbereitet die Flut eine ganze Region treffen kann.

Niedersachsen, Verden: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) unterhält sich im Flutgebiet mit Karsten Hauschild vom DLRG.
Niedersachsen, Verden: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) unterhält sich im Flutgebiet mit Karsten Hauschild vom DLRG. © DPA Images | Arne von Brill

Doch nicht nur Flutkatastrophen lassen sich mit dem digitalen Zwilling vorhersagen, sondern auch Hitzewellen in Städten. Denn in Vierteln mit vielen Hochhäusern und Asphaltböden steigen Temperaturen anders als in Stadtparks oder an Flüssen. Zu sehen sein soll auch, in welchen Wäldern sich schädliche Insekten ausbreiten, oder wo noch Raum für Solaranlagen und Windräder ist. Außerdem zeigt der Zwilling von Deutschland an, in welchen Regionen die Menschen gut versorgt sind mit Kliniken – und wo Lücken klaffen.

Um Beckers Ziel zu erreichen, starten derzeit immer wieder kleine Flugzeuge mit hochtechnischem Gerät. Sie fliegen in Linien über das Land, in einer Höhe von 700 bis 2500 Metern, und in einem Abstand von 500 bis 800 Metern. Mit Sensoren nehmen die Flugzeuge alles auf, jede Anhöhe, jeden Baum, in einer Auflösung, die bis auf zehn Zentimeter scharf ist.

Was Firmen für einzelne Produktionsketten machen, will Becker für Deutschland aufbauen

Die Wirtschaft kennt die Simulation eines „Zwillings“ ebenfalls, berechnet mithilfe von Computerprogrammen die Produktionsketten, überwacht Anlagen in Echtzeit, verhindert so Ausfälle und Fehlzeiten. Eine ganze Branche baut diese „Industrie 4.0“ derzeit auf.

Was Firmen für einzelne Produktionsketten machen, will Beckers Amt für ganz Deutschland aufbauen. Und genau darin liegt die Herausforderung. Die Daten über Feldwirtschaft, Polizeistationen, Kliniken – es sind schiere Massen an Informationen, die permanent gesammelt und aktuell gehalten werden müssen. Und sie müssen für eine virtuelle Simulation mit Computern verarbeitet werden, also die Wetter-Daten eingespeist werden in die Deutschlandkarte. „Eine echte Herausforderung ist derzeit die Echtzeit-Simulation“, sagt Amtsleiter Becker. Momentan ist nicht klar, ob die Rechenleistung der Computer ausreicht, um die Auflösung der Bilder und Geländeanimationen auf dem Niveau zu halten.

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    Und noch etwas ist ein Problem: Wenn bei einer Flutkatastrophe Bäume umstürzen, Autos Wege blockieren oder Brücken zusammenbrechen, fehlen diese Daten. Niemand kann sie so schnell einspeisen. Doch gerade das ist es, was den Strom der Wassermassen vor Ort massiv beeinflussen kann – und damit die Vorhersage. Die Flut im Ahrtal hat das deutlich gemacht.

    Eine weitere Gefahr sieht Becker: die Sicherheit der Daten. Denn wer so viel über Deutschland sammelt, deckt auch die Lücken in der Infrastruktur auf. Noch relevanter ist die Sorge vor Spionage. Russland und besonders China fallen den deutschen Nachrichtendiensten immer wieder mit massiven Cyberangriffen auf, die nicht nur Infrastruktur außer Kraft setzen sollen – sondern auch zum Ziel haben, wichtige Informationen über die deutsche Wirtschaft zu sammeln. Ein digitaler Deutschland-Zwilling wäre ein attraktives Ziel für Cyberkriminelle und Spione im Netz. „Da soll natürlich klar sein, wer auf diese Daten Zugriff hat – und wer nicht“, sagt BKG-Präsident Becker. Und wie gut die Daten geschützt sind.

    LEDs in einem Serverschrank in einem Rechenzentrum: Eine schiere Masse an Daten braucht einen sicheren Ort zu Speicherung.
    LEDs in einem Serverschrank in einem Rechenzentrum: Eine schiere Masse an Daten braucht einen sicheren Ort zu Speicherung. © Sebastian Gollnow/dpa | Unbekannt

    Die Masse an Daten lässt sich am besten in „Clouds“ speichern, also Datenwolken, die auf Servern gespeichert sind. Brisant ist allerdings, dass nicht nur Unternehmen die Server von privaten Anbietern wie Amazon und Microsoft nutzen – sondern teilweise auch Behörden. Denn US-Dienstleister bieten einen Service, mit dem der deutsche Staat nicht mithalten kann. Der Bund ist derzeit noch abhängig von diesen Firmen.

    Kritiker bemängeln, Deutschland habe viel zu spät auf Datensicherheit gesetzt

    Das wird vor allem dann relevant, wenn der Staat für sensible Daten und deren Schutz eigentlich selbst verantwortlich sein sollte, etwa bei Projekten von Beckers Amt wie dem Deutschland-Zwilling. Sowohl die Bundesregierung als auch die Europäische Union investieren derzeit Milliarden in Projekte, die staatliche Datenspeicherung verbessern. Viel zu spät, sagen Kritiker, hätte die Politik diese Lücken erkannt.

    Aber vielleicht noch rechtzeitig für Beckers Zwillings-Projekt. Denn noch müssen die Flugzeuge mit den Sensoren über viele Berge und Häuser der Republik kreisen und Daten über das Land sammeln. Erst in ein paar Jahren, so schätzt Becker, werde der digitale Zwilling dann geboren.