Berlin. Die AfD legt zu, die Wahlbeteiligung ist schwach. Was der Kanzler vom Wahlsonntag lernen kann – und warum er nach Apolda schauen muss.
Was sind schon 550.000 Wähler? Was heißt es schon, wenn an einem regnerischen Berliner Sonntag eine halbe Million Menschen die verkorkste Bundestagswahl wiederholt? Nicht viel, oder? So könnte man das sehen – und läge falsch: Die Berlinwahl an diesem Sonntag hat wie jede regionale Wahl das Zeug zum Stimmungstest für die Bundesregierung. Doch was bedeutet das jetzt für die Ampel und Olaf Scholz?
1. Die AfD gewinnt – sogar aus der U-Haft heraus
Es ist nur ein Detail, aber es steht für einen Trend: Im Dezember 2022 wurde die Berliner AfD-Politikerin Birgit Malsack-Winkemann mit zahlreichen anderen Verdächtigten aus der Reichsbürgerszene festgenommen. Der Vorwurf: Umsturzpläne, bewaffneter Überfall auf den Bundestag. Malsack-Winkemann sitzt in U-Haft, stand am Sonntag aber erneut auf den Stimmzetteln, weil bei einer Wiederholungswahl Parteien keine neuen Kandidaten aufstellen dürfen. Ihren Anhängern war das egal: Die Juristin konnte ihr Erststimmenergebnis im gutbürgerlichen Westen um 0,2 Punkte auf 5,5 Prozent steigern.
Insgesamt gewann die AfD einen Prozentpunkt dazu, in einigen Wahlkreisen im Osten der Stadt bekam sie jede vierte Stimme. Trotz – oder sogar wegen der Demonstrationen gegen Rechtsextremismus, die seit Wochen Hunderttausende auf die Straße holen. Die Demos scheinen der Partei aktuell eher zu helfen: Die AfD verzeichnet einen Mitgliederzuwachs, in den bundesweiten Umfragen steht sie weiter stabil bei 20 Prozent. Die Lehre für Scholz: Der deutschlandweite Protest gegen die AfD reicht nicht aus. Die seriösen Demokraten müssen Lösungen liefern, die überzeugender sind als die Ideen der Rechten.
2. Die FDP spielt Opposition in der Regierung
Pünktlich zum Wahlsonntag bekamen die Liberalen eine neue Umfrage auf den Frühstückstisch: vier Prozent. Todeszone. Kein Ausreißer, sondern der Trend seit mehreren Wochen. Am Abend war dann klar: Auch in Berlin zeigt der Trend nach unten. Und das, obwohl die FDP in der Ampel-Koalition derzeit alles dransetzt, um sichtbar zu sein. Doch je mehr Christian Lindner und seine Leute am liberalen Profil meißeln, desto stärker wenden sich die Wähler ab.
Sollte sich der Trend bis zur Europawahl fortsetzen, dürften die Liberalen in ihrer wachsenden Angst vor dem Untergang immer unberechenbarer werden. Lindner mag sich aus staatspolitischer Verantwortung noch zusammenreißen – ob er den Laden aber bis zur Wahl 2025 zusammenhalten kann, ist fraglich. Für Olaf Scholz bedeutet das: Er hat die Opposition am Kabinettstisch.
3. Die SPD muss sich von einer Illusion verabschieden
Sicher, die SPD ist in Berlin noch immer stärkste Kraft. Doch bundesweit stellt sich in vielen Regionen längst die Frage: Ist die SPD überhaupt noch Volkspartei? Mehr noch: Die große alte antifaschistische Tradition der Sozialdemokraten – sie scheint in diesen Tagen gerade im Osten kaum noch Wirksamkeit zu entfalten. Das starke Abschneiden der AfD und die niedrige Wahlbeteiligung bei der Teil-Wahl am Sonntag seien Warnzeichen, findet daher auch SPD-Frontfrau Franziska Giffey und erinnert die eigenen Leute: „Teil unserer DNA als SPD ist der Kampf gegen rechts, das klare Eintreten für die Demokratie.“
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Richtig ist: Die SPD hat sich in der Ampel-Koalition strategisch stabil hinter ihren Kanzler gestellt. Danken tun ihr das die wenigsten. Auf die Frage, welches Regierungsbündnis nach der nächsten Bundestagswahl gut wäre, wollen zwar die allermeisten Deutschen, dass die SPD regiert – aber nur mit der Union zusammen: 36 Prozent wollen nach einer aktuellen Insa-Umfrage eine Große Koalition aus Union und SPD, 26 Prozent wünschten sich eine sogenannte Deutschland-Koalition aus Union, SPD und FDP. Die bittere Lehre für Scholz: Die Leute wollen sozialdemokratische Politik, glauben aber nicht mehr an die SPD.
4. CDU-Chef Merz muss liefern – spätestens im Herbst
Für Friedrich Merz und die CDU bestätigt die Berlinwahl, was seit Wochen zu sehen ist: Die Ampel ist unbeliebt, die Union steht stabil da. Doch in den Triumph mischt sich eine tiefe Sorge, die im kommenden Herbst bei den Wahlen in Thüringen und Sachsen zur blanken Ratlosigkeit werden kann: Was, wenn sich trotz der soliden CDU-Kraft nichts ausrichten lässt, weil die AfD dominiert? Merz muss liefern, das weiß er. Drei Tage nach der Berlinwahl, beim politischen Aschermittwoch im thüringischen Apolda, wird sich zeigen, ob der Mann mit dem Hang zur saftigen Zuspitzung den richtigen Ton trifft. Der Kanzler wird genau hinhören. Seit dem jüngsten Rededuell im Bundestag ist klar: Scholz ist in Angriffslaune.
5. Weniger Wähler bedeutet auch weniger Demokratie
Ein Ergebnis der Berlinwahl muss hellhörig machen: Die Teilwiederholung hat in der Gesamtschau mit den gültigen Ergebnissen von 2021 mit 69,5 Prozent zur bisher niedrigsten Beteiligung an einer Bundestagswahl in Berlin seit 1990 geführt. Konkrete Folge: Berlin verlor vier Mandate und ist künftig nur noch mit 25 Politikern im Bundestag vertreten. Generell gilt: Eine niedrige Wahlbeteiligung kann dazu führen, dass diejenigen Parteien, die ihre Anhänger effektiv mobilisieren können, überproportional gut abschneiden. Nicht nur Scholz, sondern alle seriösen Demokraten werden sich bei den kommenden Wahlen auch an der Wahlbeteiligung messen lassen müssen.
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