Sie schafft das! Was Angela Merkel versprach, setzte die 70-Jährige aus Potsdam in die Tat um. Deutschlehrerin und Pflegemutter in einer Person.
Erst war sie Vormund für einen minderjährigen Geflüchteten, dann für zwei, schließlich für zehn. „Alle sind männliche Jugendliche, bei der Ankunft zwischen 16 und 18 Jahren alt, die meisten aus Gambia, aus Kenia, Senegal, Eritrea und Syrien“, erzählt Susanne Koßmann. „Mein Leben war 2013 so sortiert und behäbig, deshalb wollte ich mich tatkräftig engagieren und eine ehrenamtliche Vormundschaft übernehmen.“ Nun, mit 70, kümmert sich die Potsdamerin nur noch um ihre „Jungs“, wenn es wirklich sein muss. Susanne Koßmann hat sehr intensive Jahre als Pflegemutter, Behördenkämpferin, Deutschlehrerin und Ausbildungscoach erlebt.
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So fing alles an: „Mein Leben war gut, ich habe einen netten Mann; und damals war ich schon lange als Hausdame bei einem sehr prominenten Menschen in Berlin beschäftigt,“ berichtet Susanne Koßmann. Wer das war, sagt sie nicht… „sehr prominent“. Aber irgendwas fehlte. „Im Radio Berlin hörte ich, dass Vormunde für Geflüchtete gesucht werden. Ich konnte mir gut vorstellen, jemanden ein bisschen zu betütteln und habe vier Monate lang Seminare bei der Diakonie besucht. Im Januar 2014 übernahm ich eine ehrenamtliche Vormundschaft für einen jungen Kenianer. Da stand ein junger riesiger Kerl vor mir, das Gegenteil von dem, was ich wollte.“
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Aber nun war Malik aus Kenia da und brauchte ihre Hilfe. „Ich habe mich reingestürzt und ihn zu Behörden begleitet.“ Auf diese ist Susanne Koßmann übrigens bis heute schlecht zu sprechen. „Im Ausländeramt ist es oft grauenhaft. Den Umgang dort würde ich mir nie gefallen lassen. Aber ich möchte diesen Job auch nicht haben, die Leute werden nicht genug qualifiziert.“ Der zweite „Junge“, wie sie ihre Schützlinge nennt, kam nach einigen Monaten dazu, als sein Vormund absprang. „Das ist mir dann noch zweimal passiert“, sagt Susanne Koßmann. „Ein Junge meinte, er habe sich dort wie ein Haustier gefühlt. Und ein anderer hatte den Eindruck, er sollte als Ersatz für den verstorbenen Sohn der Frau herhalten.“
Zwei Schritte vor, einen zurück
Malik konnte die durchsetzungsstarke Hauswirtschafterin schnell in einer Regelschule unterbringen, nach dem Schulabschluss in eine Ausbildung als Hotelkaufmann und danach in den Job. „Immer zwei Schritte vor und einen zurück“, nennt Susanne Koßmann diese Erfolgsgeschichte. In der Flüchtlingsunterkunft lernte sie Maliks Freunde kennen. „Jeder hatte die gleichen Probleme, aber keine ehrenamtlichen Helfer oder welche, die schnell absprangen, weil es wirklich tierisch anstrengend war“, blickt Koßmann zurück. „Ich habe ihnen Deutsch beigebracht, und sie standen Schlange.“ Inzwischen hatte sie sich autodidaktisch gut in den „Behördenkram“ eingearbeitet und alle jungen Männer zu ihren amtlichen Terminen begleitet. „Ich bin auch bei allen mit zu den Lehrern gegangen, zu den Ausbildern, mit zu den späteren Arbeitgebern“, erklärt Susanne Koßmann. Wohlgemerkt neben ihrem Vollzeitjob im Haushalt des Promis.
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Syrer studierte Elektronik
„Meine Arbeitgeberin hat mir viel ermöglicht. Ich konnte auch mal freinehmen, um in eine Botschaft zu fahren, und wenn ich im Haushalt geistig nicht gefordert war, hatte ich Kopfhörer auf und habe für die Jungs mit Ämtern telefoniert.“ Im Laufe der Zeit übernahm Susanne Koßmann die Vormundschaft für zehn junge Männer, die sich alle untereinander kannten. „Denn es wäre schwer gewesen zu sagen: Dir helfe ich und Dir nicht.“ Koßmann mietete vier Wohnungen an, in denen jeweils zwei Geflüchtete wohnen konnten. „Ich fand sehr zugetane Vermieter, bei denen ich mich als Mieterin verbürgte, und dann habe ich den Jungs die Wohnungen untervermietet. Sie hatten dort ihren persönlichen Freiraum und Ruhe zum Lernen.“ Manche von ihnen wohnen heute noch dort, teils mit eigenem Mietvertrag.
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Einfach war das alles nicht. Einmal konnte sie in letzter Minute eine Abschiebung verhindern. Und natürlich machten die „Jungs“ aus Blödsinn. Teenager halt! „Sie haben auch während des Ramadans Fußball gespielt und wurden schon mal ohnmächtig, wenn es heiß war“, nennt Susanne Koßmann ein Beispiel. Besonders beeindruckend ist, dass sie alle zehn jungen Männer dazu brachte, etwas aus ihren Talenten zu machen. „Der schlechteste Schulabschluss war Hauptschule“. Ein Geflüchteter arbeitet jetzt als Hotelfachmann, einer als Trockenbauer. Der junge Syrer hat sogar seinen Studienabschluss in Elektronik. „Zwei Jungs waren Analphabeten, als sie nach Deutschland kamen. Der eine hat ein Jahr lang ein Praktikum bei der Berliner Abfallbeseitigung gemacht, hat das durchgezogen und ist immer noch da. Jeden Morgen geht er mit strahlenden Augen hin“, freut sich Susanne Koßmann. Der andere junge Mann hatte in seiner Heimat als Automechaniker gearbeitet. Die Berufsschule hier musste er abbrechen, weil er vor lauter Angst vor dem Matheunterricht krank wurde. „Er ist mit seiner Freundin nach München gegangen und arbeitet dort in einer Autowerkstatt. Sein Chef sagt, er würde ihn nicht gehen lassen.“
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Jedem seine Chance
Susanne Koßmann, seit kurzem nach 54 Berufsjahren im Ruhestand, will, dass alle Geflüchteten hierzulande solche Chancen bekommen und es wesentlich weniger umständlich und bürokratisch wird, sie in Ausbildung und Arbeit zu bringen. „Wo ist Deutschland denn in zehn Jahren, wenn wir ihnen diese Möglichkeiten nicht geben? Einer meiner Jungen ist jetzt Pfleger auf der Intensivstation. In den Krankenhäusern arbeiten doch jetzt schon vor allem Ausländer.“ Der Arbeitsmarkt brauche zugewanderte Menschen dringend. „Und in ihr Land zurück können sie nicht, wenn sie hier nichts erreicht haben. Ohne Erfolg werden sie zu Hause geächtet“, weiß Susanne Koßmann. „Meine zehn Jungs haben mir gesagt: Ohne Dich hätten wir das nicht geschafft. Wir würden wie manche unserer Freunde am Görlitzer Platz sitzen – wenn überhaupt.“ Der deutsche Staat sorge nicht dafür, dass mit Geflüchteten „gut umgegangen wird“, kritisiert die Potsdamerin. „Man müsste in ihren Heimatländern ansetzen, aber das klappt nicht“, ist ihre Meinung.
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Wie hat die inzwischen 70-Jährige ihren zehnjährigen Dauereinsatz bewältigt? „Dem ersten Jungen, Malik, habe ich zu viel ermöglicht und durchgehen lassen“, blickt sie zurück. „Die Jungs waren alle im Macho-Alter und mussten erst lernen, dass ich als Frau der Leitwolf bin. Das hat aber geklappt, weil ich schon älter war. Vor anderen hatten sie immer eine breite Brust, aber mit mir alleine haben sie auch schon mal in meinen Armen geweint, nach allem, was sie durchgemacht hatten“, erzählt Susanne Koßmann und resümiert: „Mir wurde das öfter mal zu viel, aber ich hatte A gesagt – und dann sage ich auch B. Wenn ich jemandem ein Versprechen gebe, ziehe ich das durch.“
Eine Regel, um auch mal Pause zu haben, hieß, dass sie nach 19 Uhr keiner mehr anruft. „Heute kümmere ich mich nur noch um die Jungs, wenn es gar nicht anders geht. Es belastet mich nicht mehr so. Bei aller Anstrengung waren die zehn Jahre eine große Bereicherung für mich. Wir haben zusammen vor Trauer und Freude geweint und gelacht. Trotz ihrer Traumata sind die Jungs sehr fröhliche Menschen. Manche nennen mich immer noch Mama, die anderen Susanne.“ Sie werde nun oft gefragt, ob sie nicht auch Geflüchtete aus der Ukraine betreuen will. „Aber das ist mir jetzt zu viel.“
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Ihr Mann habe nach der dritten Vormundschaft gesagt, sie hätte wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank. „Er ist klassischer Gitarrist und hat dann zwei Jungen Unterricht gegeben, so hat er sich seine Brücke zu ihnen gebaut. Vor ihm hatten immer alle Respekt.“ Die Nachbarn seien durchweg sehr nett gewesen, hätten ihr aber nicht wirklich geholfen. Olle Klamotten und Sperrmüll mit Kosmetikschränken hätten die jungen Männer nicht gebrauchen können. „In unserer gutbürgerlichen Reihenhaussiedlung bin ich die Exotin. Das macht mir nichts, denn ich bin unangepasst“, sagt Susanne Koßmann selbstbewusst.
Die Tür steht immer offen
„Mein persönliches Leben und meine Wohnung habe ich von Anfang an allen geöffnet, die Jungs können bis heute kommen und wissen, meine Tür steht immer offen“, sagt sie. „Wir sind zusammen in die Ferien gefahren, ich war mit einigen inzwischen auch im Heimatland. Zwei von den Jungs haben meine Wohnungsschlüssel und meine Vorsorgevollmacht. Sie sind zuverlässig, hilfsbereit, vertrauenswürdig, lustig, traurig, nervig. Eben ganz normale junge Menschen, die jetzt endlich ihr Leben leben können. Alle sind sehr dankbar, einer hat bereits die deutsche Staatsbürgerschaft.“
Manche der jungen Männer haben auch bereits eigene Familien mit Kindern. „Durch die aktuelle politische Lage fangen sie an, über ihren persönlichen Tellerrand zu schauen, und es entstehen teilweise hitzige Diskussionen“, berichtet Susanne Koßmann und betont: „Trotzdem sind wir uns alle einig: In jedem Menschen fließt nur rotes Blut, und es kommt im Leben nur auf die soziale Kompetenz an. Bis heute lasse ich nichts auf die Jungs kommen und werde immer stinksauer, wenn ich auch nur einen Hauch von Rassismus rieche. Die Jungs sind viel weniger empfindlich als ich, aber ich weiß: Manches vergessen sie niemals.“
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Inzwischen habe sie jemand für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen, erzählt die Potsdamerin lächelnd. „Aber das möchte ich gar nicht. Was ich will, ist ein Ansprechpartner in der Regierung.“ Starke Worte einer starken Frau.
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