Berlin. Kitas brauchen einen neuen Umgang mit kranken Kindern, sagt Verbandspräsident Michael Hubmann – und richtet einen Appell an die Stiko.

Die Grippewelle rollt durchs Land, betroffen sind dieses Jahr besonders Kinder und Jugendliche. Michael Hubmann, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), hat eine klare Forderung, um die Welle einzudämmen. Doch nicht nur die Viren machen Eltern gerade das Leben schwer. Der Kinderarzt sagt, welche Medikamente schon wieder knapp sind, warum Kitas einen neuen Umgang mit erkälteten Kindern brauchen und warum einige Kinder scheinbar den ganzen Winter über gesund bleiben.

Herr Hubmann, es gibt Kinder, die nehmen jeden Infekt mit – andere dagegen bleiben den ganzen Winter gesund. Woran liegt das?

Michael Hubmann: Kinder müssen eine gewisse Zahl an Infekten durchleben, das ist wichtig für ihr Immunsystem. Es gibt aber große Unterschiede, wie stark ein Kind Symptome entwickelt. Das hat nichts mit der Stärke der Abwehr zu tun. Ein Kind, das im gesamten Winter nur dreimal Schnupfen hat, ist genauso normal wie ein Kind, das in der gleichen Zeit sechs Infekte mit mehreren Tagen Fieber hat. Wenn Eltern das Gefühl haben, dass ein Kind permanent krank ist, kann das aber auch daran liegen, dass sie erwarten, dass Schnupfen oder Husten zwischendurch komplett verschwinden müssten. Das ist aber nicht so: Eine laufende Nase oder ab und zu Husten – das sind milde Symptome, die auch zwischen zwei Infekten vorkommen können.

Die Kita schickt das Kind aber trotzdem nach Hause …

Genau das ist das Problem: Das Kind hustet einmal kurz, die Eltern werden angerufen, damit sie es abholen. Bis sie in der Kita sind, ist vom Husten nichts mehr zu hören. Oft fehlen in den Einrichtungen die Erfahrung und die Gelassenheit, solche Fälle richtig einzuschätzen. Nicht alles ist immer gleich krankhaft. Die entscheidende Frage ist doch: Ist das Kind ansteckend oder nicht.

Michael Hubmann ist Kinderarzt und Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ).
Michael Hubmann ist Kinderarzt und Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). © BVKJ | BVKJ

Woran erkennt man das?

Ein Kind, das starke Symptome hat, gehört nach Hause. Geht es ihm aber wieder besser, sollte die Regel der WHO gelten: War ein Kind krank, muss es 48 Stunden fieberfrei sein, damit es nicht mehr ansteckend ist. Mit Restsymptomen können Kinder problemlos wieder in die Kita gehen. Wenn wir das im Alltag umsetzen würden, hätten wir bei Kindern ein Drittel weniger krankheitsbedingte Fehltage. Kitas und Schulen sollten sich danach richten.

Woran erkennen Eltern, ob ihr Kind die Grippe, das RS-Virus oder nur eine schwere Erkältung hat?

Generell gilt: Je jünger die Kinder sind, desto unspezifischer sind die Symptome. Bei den Älteren gibt es ein paar Leitsymptome: Das RS-Virus erkennt man oft am bronchialen Husten und dem blubberigen Sekret. Die Grippe beginnt oft schlagartig und die Kinder haben sehr hohes Fieber. Corona ist am wenigsten spezifisch.

Wann sollten Eltern besser zum Kinderarzt gehen?

Wenn sie den Eindruck haben, dass sich das Kind stark verändert: Wenn es apathisch wird, wenn es bei Fieber einen unklaren Hautausschlag bekommt oder nicht mehr richtig atmen kann.

Nur eine Erkältung – oder mehr? Mit einem Stethoskop untersucht eine Ärztin ein Kind.
Nur eine Erkältung – oder mehr? Mit einem Stethoskop untersucht eine Ärztin ein Kind. © picture alliance/dpa | Christian Charisius

Die Grippewelle rollt durchs Land, diesmal sind besonders Schulkinder und Jugendliche betroffen. Was empfehlen sie jetzt? Impfen?

Die aktuelle Impfempfehlung gegen Influenza zielt nur auf Kinder mit Risikofaktoren. Das ist aus unserer Sicht falsch. Auch gesunde Kinder sind sehr oft Überträger der Grippeviren. Der Klassiker: Das Enkelkind ist infiziert, aber nur leicht krankt, Opa und Oma aber bekommen die gefährliche Influenza. Unser Ziel muss es sein, die Ausbreitung des Virus durch Impfung zu verhindern und damit die Krankheitslast für alle zu mindern. Dafür wäre eine breite Impfung ab dem Kleinkindalter medizinisch sinnvoll.

Wie gefährlich wird die Grippe dieses Jahr?

Wir haben einen eher späten Beginn der Grippesaison, aber einen sehr raschen Anstieg. Wir müssen damit rechnen, dass es eine starke Grippewelle wird – möglicherweise mit einem zweiten Höhepunkt Ende Februar.

Wie können Eltern ihre Kinder in diesem Winter sonst schützen – was stärkt die Abwehr?

90 Prozent der Abwehr von Viren läuft über das Immunsystem. Schlaf, frische Luft, gesunde Ernährung – alles das ist wichtig. Ein ganz einfacher Rat ist aber auch: Achtet darauf, dass die Kinder nicht zu warm angezogen sind, erst schwitzen und dann kalt werden. Wenn Kinder im Supermarkt bei 20 Grad eingepackt sind wie draußen bei minus zehn Grad, dann erkälten sie sich schnell, wenn sie wieder draußen sind.

Wie gefährlich wird das RS-Virus in diesem Winter?

Bislang ist die Lage in den Kliniken angespannt, aber noch nicht dramatisch. Das heißt aber nicht, dass es so bleiben wird. Immerhin haben wir jetzt einen zugelassenen Impfstoff für alle Kinder, es gibt aber noch keine Empfehlung der Stiko dafür. Im Einzelfall können die Kinderärzte jetzt aber entscheiden, auch Kleinkinder ohne Vorerkrankungen gegen das RS-Virus zu impfen.

Bei welchen Medikamenten gibt es aktuell Engpässe?

Es gibt jetzt schon wieder bundesweit zu wenig Penicillin. Das ist deshalb so gefährlich, weil Penicillin das beste Antibiotikum gegen Streptokokken-Infektionen ist. Es wirkt gezielt. Wenn wir auf breiter angelegte Antibiotika ausweichen müssen, erhöhen wir die Gefahr von Resistenzen. Eng wird es auch schon wieder bei Salbutamol, ein Wirkstoff gegen Asthma und chronische Lungenerkrankungen. Letztes Jahr mussten wir in einigen Fällen Kinder in die Klinik schicken, weil für eine ambulante Behandlung die Medikamente fehlten. Das darf sich nicht wiederholen.

Für Eltern ist die Infektionssaison extrem anstrengend. Wie kann die Politik sie noch mehr unterstützen?

Die Regelung zu den Kinderkrankentagen entlastet Eltern erheblich. Wichtig wäre es nun, dass auch Eltern, bei denen der eine privat und der andere gesetzlich versichert ist, davon profitieren. Ist die Mutter mit dem gemeinsamen Kind privat versichert und der Vater gesetzlich, hat er bislang keinen Anspruch auf Kinderkrankengeld.

In den deutschen Kinderkliniken reichten kleine Infektionswellen, um die Stationen an den Rand des Kollapses zu bringen, sagt BVKJ-Präsident Michael Hubmann.
In den deutschen Kinderkliniken reichten kleine Infektionswellen, um die Stationen an den Rand des Kollapses zu bringen, sagt BVKJ-Präsident Michael Hubmann. © picture alliance / imageBROKER | Olaf Döring

Die Kinderkliniken standen in den vergangenen Wintern oft vor dem Kollaps. Kinder mussten quer durchs Land verlegt werden. Droht das wieder?

Das droht nicht – das gehört inzwischen zum bitteren Alltag im Winter. Wir haben uns schon daran gewöhnt, regelmäßig Kinder von München nach Garmisch zu transportieren, weil es in München kein freies Bett mehr gibt. Anfang Dezember hatten auch im Raum Nürnberg zwei von vier Kliniken kein einziges Bett mehr. Solange sich nichts grundlegend an der Ausstattung der Kinderkliniken ändert, reichen kleine Infektionswellen, um wieder an die Belastungsgrenze zu kommen.

Viele Kinderarztpraxen sind überlaufen, auf Termine muss man oft lange warten. Was sagen Sie den verzweifelten Eltern?

Ich kann sie absolut verstehen. Aber das liegt nicht an uns. In den vergangenen 30 Jahren wurden viel zu wenige Kinderärzte ausgebildet, jetzt gehen die Babyboomer in Rente und hinterlassen eine gewaltige Lücke. Das einzige, was jetzt schnell helfen könnte, wäre eine rasche Entlastung der Praxen: 30 Prozent in unserer Arbeit haben nichts mit der Versorgung der Kinder zu tun – sondern mit überflüssiger Bürokratie. Klappt das nicht, werden wir die Versorgung auf dem jetzigen Niveau nicht aufrechterhalten können.