Berlin. Der Finanzminister deutet an, dass Kinderarmut gewissermaßen importiert sei – und zwar durch Zuwanderer. Doch Experten widersprechen.
Der Kanzler bemühte sich zuletzt, Zuversicht auszustrahlen. Und auch die zuständige Ministerin Lisa Paus (Grüne) vermeldete vor dem Wochenende Fortschritte beim Mega-Projekt Kindergrundsicherung, das innerhalb der Bundesregierung noch immer ein Konfliktthema ist.
Nun sorgt eine neue Stichelei für Zündstoff. Urheber ist Finanzminister Christian Lindner (FDP), der mit Paus seit Monaten darüber streitet, wie viel Geld es denn nun geben soll für arme Familien.
Lindner argumentierte am Wochenende mit dem Standpunkt, dass den Betroffenen mit Geld gar nicht so recht geholfen sei. Bei "den ursprünglich deutschen Familien, die schon länger hier sind", erklärte er, sei die Kinderarmut "ganz, ganz deutlich spürbar" zurückgegangen. Dass die Kinderarmut in Deutschland trotzdem noch "indiskutabel" hoch sei, liege an Familien, die seit 2015 eingewandert seien.
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Darüber wolle er gern sprechen, führte Lindner weiter aus und fragte, ob es nicht diskussionswürdig sei, "in die Sprachförderung, Integration sowie die Beschäftigungsfähigkeit der Eltern zu investieren. Zudem müsse man die Kitas und Schulen für die Kinder so ausstatten, dass sie vielleicht das aufholen können, was die Eltern nicht leisten können".
Kinderarmut: Mehr als zwei Millionen Betroffene in Deutschland
Es ist eine Argumentation, die Lindner schon in der Vergangenheit vorgebracht hatte und die ihm wiederholt Kritik eintrug – so auch dieses Mal. So fasste Sarah-Lee Heinrich, Bundessprecherin der Grünen Jugend, Lindners Position auf der Plattform X (vormals Twitter) spitz zusammen: "Kindergrundsicherung nur für die Familien, die den Stammbaum direkt mit vorlegen."
Was ist dran an der These des Finanzministers? Und womit wäre betroffenen Familien wirklich geholfen?
Fest steht: Nach offiziellen Daten des EU-Statistikamtes Eurostat waren im vergangenen Jahr hierzulande knapp 2,2 Millionen Kinder und Jugendliche armutsgefährdet. Das entsprach in dieser Bevölkerungsgruppe etwa einem Anteil von rund 15 Prozent.
Auf diesem Niveau bewegt sich die Quote in Großen und Ganzen bereits seit Jahren – mit einem deutlichen Ausreißer nach unten im letzten Vor-Corona-Jahr 2019 sowie einem deutlichen Ausreißer nach oben 2021, dem Jahr des russischen Angriffs auf die Ukraine. In dessen Folge kamen zahlreiche ukrainische Flüchtlinge nach Deutschland.
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Als armutsgefährdet gilt eine Person dann, wenn sie über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung verfügt. Für Vier-Personen-Haushalte mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren lag dieser Schwellenwert zuletzt bei 2.625 Euro netto pro Monat.
Kinder von im Ausland geborenen Eltern öfter armutsgefährdet
Kinder und Jugendliche aus Familien, die – um mit Lindner zu sprechen – "schon länger hier sind", sind in der Tat seltener armutsgefährdet. Und tatsächlich geht der Anteil der Betroffenen an der gesamten Altersgruppe seit Jahren zurück, wie weitere Eurostat-Daten zeigen. Von denjenigen Minderjährigen, deren Eltern in Deutschland geboren wurden, waren im vergangenen Jahr rund acht Prozent armutsgefährdet. Fünf Jahre zuvor waren es noch rund 15 Prozent.
Bei denjenigen Minderjährigen, deren Eltern im Ausland geboren wurden, zeigt sich hingegen ein anderes Bild: Fast 25 Prozent aus dieser Gruppe war laut Statistik im vergangenen Jahr armutsgefährdet. Fünf Jahre zuvor waren es knapp 17 Prozent.
Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), Marcel Fratzscher, merkt allerdings an, dass viele Menschen nur deshalb nicht mehr in der Statistik auftauchen, weil durch Flucht noch ärmere Menschen hinzugekommen sind. "Eine Zuwanderung primär von Menschen mit geringen Einkommen reduziert den Median/mittlere Einkommen."
Finanzminister: Wohlfahrtsverband hält Argumentation für "perfide"
Mit Blick auf Lindners Argumentation twitterte der Ökonom, die Hautfarbe, Religion oder Herkunft eines armen Kindes ändere nichts an der Notwendigkeit und Dringlichkeit, dessen Armut zu bekämpfen.
Bessere Kitas, Schulen oder Jobchancen seien kein Ersatz dafür, bei Armut gehe es primär um fehlende Teilhabe. "Eine ausreichende Kindergrundsicherung ist daher eine Voraussetzung für Kinder, um Bildungs- und später Arbeitsmarktchancen nutzen zu können."
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Auch beim Paritätischen Wohlfahrtsverband hält man von Lindners Argumentation deshalb wenig. "Es ist wirklich abgründig, wenn hier Kinder, die zu uns geflüchtet sind und die mit ihren Eltern tatsächlich besondere Bedürfnisse haben, ausgespielt werden gegen die Kinder, die schon lange hier sind, denen schlicht Geld fehlt, um überhaupt das Ende des Monats zu erreichen", sagte Ulrich Schneider, Präsident des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, dieser Redaktion.
"Es entsteht der Eindruck, dass Lindner versucht, die Kindergrundsicherung als wirkungsvolles Instrument gegen Armut zu verhindern."
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Dass etwa der Anteil ausländischer Kinder in der Grundsicherung gestiegen sei durch die Ankunft ukrainischer Geflüchteter, lasse nicht den Schluss zu, dass deswegen mehr Geld keine Hilfe sei. "Von 318 Euro im Monat bringt man kein Kind zum Monatsende", sagte Schneider. "Das ist ausgeschlossen".
Und bessere Bildungschancen für die Kinder, Arbeitsmarkt- und Integrationspolitik für die Eltern seien zwar wichtig. Aber diese Maßnahmen bräuchten Zeit, um zu wirken. Bis Familien dadurch in der Lage seien, sich selbst zu helfen, bräuchten sie trotzdem mehr Geld. Schneider sagte: "Diese weiteren Maßnahmen auszuspielen gegen Unterstützung mit Geld und die Leute so länger in Armut zu lassen, ist perfide."
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