Washington. Die meisten Amerikaner glauben beim JFK-Attentat nicht an einen Einzelschützen. Nun bricht ein Ex-Secret-Service-Agent sein Schweigen.
Auf eines ist Verlass an runden Jahrestagen des berühmtesten Verbrechens des 20. Jahrhunderts: neue (oder neu klingende) Mythen über das, was am 22. November 1963 mittags gegen 12.30 Uhr auf der Elm Street in Dallas/Texas in den USA geschah.
Die rund acht Sekunden des Attentats auf Präsident John F. Kennedy markieren den wahrscheinlich am umfassendsten erforschten Moment der Weltgeschichte. Trotzdem reißt der Strom von Spekulationen darüber, wer geschossen und wer den Mordanschlag in Auftrag gegeben haben könnte (und warum), nicht ab.
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Sechs Jahrzehnte nach dem wirkungsmächtigsten politischen Mord der amerikanischen Geschichte, der den mit jugendlichen 43 Jahren ins Amt gekommen Hoffnungsträger nach nur 1000 Tagen aus dem Leben riss, glauben laut aktuellen Umfragen 65 % der Amerikaner, dass die mehrfach offiziell beglaubigte Erzählung vom Einzeltäter Lee Harvey Oswald nicht der Wahrheit entspricht.
Dabei sprechen über fünf Millionen offizielle Seiten aus Dokumenten dem Nationalarchiv, die nach und nach freigegeben wurden, eine andere Sprache.
Neffe von JFK hält den Geheimdienst CIA verantwortlich
Auch angetrieben vom unabhängigen Präsidentschaftskandidaten Robert F. Kennedy jr., einem Neffen des 35. US-Präsidenten, liegt der Anteil derer, die heute den US-Auslandsgeheimdienst CIA für den Hauptstrippenzieher der Tat halten, mittlerweile bei 16 Prozent.
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Dass die Mythen-Bildung nicht abreißt, die seither neben der CIA die Sowjets, die Kubaner, die Exil-Kubaner, Kennedys Nachfolger Lyndon B. Johnson, die Mafia, die Notenbank Fed sowie Außerirdische als Hinterleute des Mordes in Umlauf gebracht hat, geht zuvorderst auf den Staat zurück. Mehrere offizielle Kommissionen von Regierung und Parlament haben bis heute keine lückenlosen Analysen vorgelegt, die bei allen Teilversionen und Teilwahrheiten ein Fazit ziehen, das von einer überwältigenden Mehrheit der Amerikaner akzeptiert wird.
Je länger und akribischer der Mord rekonstruiert wird, je öfter jedes Detail neu bewertet wird, desto größer wird laut Umfragen das Unbehagen vieler Amerikaner, nicht die ganze Wahrheit erfahren zu haben. Denn alles Relevante ist mehr oder weniger strittig geblieben. Die Zahl der Schützen. Die Zahl der Schüsse. Der Ort, von dem aus abgedrückt wurde. Die Flugbahnen der Kugeln. Die Resultate der Autopsie. Die Ergebnisse der polizeilichen Ermittlungen. Die Hintergründe der Tat des 1967 verstorbenen Nachtclubbesitzers Jack Ruby, der Lee Harvey Oswald zwei Tage nach dem Mord unter den Augen der Polizei erschoss.
Die Schüsse auf der Elm Street spielen eine besondere Rolle. Offiziell gab es drei, die allesamt aus dem sechsten Stockwerk eines Schulbuchlagers abgefeuert worden seien. Zwei trafen. Einer landete an einem Brückenpfosten. Paul Landis glaubt das nicht. Zum 60. Jahrestag hat der 88-Jährige ein Buch geschrieben. In „The Last Witness“ (Der letzte Zeuge) bricht das ehemalige Mitglied in der Bodyguard-Eskorte des Secret Service für Kennedy zwischen zwei sorgfältig beworbenen Buchdeckeln nach über einem halben Jahrhundert sein Schweigen: Er will in einer Sesselfalte des Cabrios, in dem JFK zur Tatzeit neben Gattin Jackie und dem texanischen Gouverneur John Connally und dessen Ehefrau Nellie fuhr, ein Projektil gefunden haben.
Kern-Aussage: Die von einer offiziellen Regierungskommission attestierte Erzählung vom Solo-Todesschützen, der von hinten abgedrückt habe, müsse falsch sein.
Landis hält es für unmöglich, dass die von ihm sichergestellte Kugel – wie offiziell behauptet – in den Nacken Kennedys einschlug, am Hals wieder austrat, danach in den Rücken des vor Kennedy sitzenden Connally eindrang, dessen Lunge und Handgelenk durchschlug, bevor sie im Oberschenkel des Gouverneurs stecken geblieben sein soll.
Auch Notärzte aus dem Krankenhaus nähren die Spekulation über einen zweiten Schützen
In exakt diese Kerbe schlägt auch eine frische TV-Dokumentation, in der neben Robert McClelland und Donald Seldin fünf weitere Ärzte umfangreich zu Wort kommen, die Kennedy seinerzeit auf der Intensivstation des Parkland-Krankenhauses auf dem Operationstisch behandelten. Aus Angst vor den Killern, so sagt der inzwischen pensionierte Mediziner Joe Goldstrich, habe man jahrzehntelang darüber geschwiegen, dass JFK neben der verheerenden Schusswunde am Hinterkopf auf der Halsvorderseite in Höhe des Schlips-Kragens eine zweite Eintrittswunde aufwies. Dafür gebe es nur eine logische Erklärung: ein zweiter Schütze.
Selbstredend sind sofort Experten wie der ehemalige Secret-Service-Agent Clint Hill, der noch näher dran war, auf den Plan getreten und haben Landis‘ Darstellung in Abrede gestellt.
Warum das so ist, hatte der bekannte Kolumnist Robert J. Samuelson bereits vor Jahren auf den Punkt gebracht. Die nicht enden wollende Fixierung seiner Landsleute auf die Kennedys sei der Beweis dafür, dass sich Amerika in Ermangelung einer echten Monarchie ein Behelfskönigspaar geschaffen habe.
Jackie Kennedy hatte daran großen Anteil. Bereits eine Woche nach dem Tod von Dallas strickte sie in einem Interview an der Legende, dass ihr Mann wie der edelmütige König Artus auf Schloss Camelot gewesen sei – ein Wohltäter des Volkes, der es vielleicht geschafft hätte, Amerika in eine bessere Zukunft zu führen, wären ihm nur einige Jahre mehr im Weißen Haus vergönnt gewesen.
Die Amerikaner sehnten sich damals nach einem Aufbruch. John F. Kennedy gab ihnen, wonach sie dürsteten. Er versprach, die Rassentrennung zu beenden. Er verfügte die Landung auf dem Mond. Er belebte das amerikanische Ur-Gefühl, wonach die Zukunft grenzenlos ist und alle Probleme lösbar sind, wenn man sie nur angeht. Er war, wie der Schriftsteller Norman Mailer schrieb, „ein Held, wie ihn Amerika brauchte“.