Berlin. Israel will die Hamas endgültig zerstören. Doch wie soll es dann im Gazastreifen weitergehen? Die Zukunft könnte noch düsterer werden.
Israels Kriegsziel für die Bodenoffensive ist klar definiert: Die terroristische Infrastruktur der islamistischen Hamas soll zerstört werden, sagte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. „Jedes Hamas-Mitglied ist ein toter Mann.“ Aber was kommt nach den Bomben und nach der Invasion? Fünf Szenarien sind denkbar.
1. Szenario: Israel besetzt den Gazastreifen für lange Zeit
Israelische Truppen rücken in den Gazastreifen ein und besetzen die Küsten-Enklave für eine lange Zeit. Es gibt eine Blaupause hierfür: Nach dem Sechstagekrieg 1967 wurde der Landstrich am Mittelmeer von Israel verwaltet. In Abwesenheit einer palästinensischen Regierung müsste Israel dafür sorgen, dass die Grundbedürfnisse der Bevölkerung befriedigt werden. Für Israel wäre das eine große Bürde. Eine derartige Operation kostet viel Geld. Und es wäre damit zu rechnen, dass ein palästinensischer Guerilla-Krieg weitere Opfer auf israelischer Seite fordert.
US-Präsident Joe Biden hat das Szenario einer Dauer-Besetzung des Gazastreifens bereits als „großen Fehler“ bezeichnet. Dagegen würde die religiöse Rechte in Israel, die im Kabinett Netanjahu stark vertreten ist, diese Option bejubeln. Sie ist immer noch verärgert über den 2005 erfolgten Rückzug israelischer Soldaten und Siedler aus dem Gazastreifen. Sie sieht das Gebiet als biblisches Heimatland der Juden.
2. Szenario: Israel tötet Hamas-Führung und zieht sich aus Gazastreifen zurück
Auch wenn Israel die Kommandozentralen der Hamas auslöschen sollte, dürfte die Terrororganisation damit nicht komplett vom Erdboden verschwunden sein. Einige ihrer Anführer und Unterstützer werden sie wahrscheinlich neu formieren. Oder eine andere islamistische Gruppe tritt an ihre Stelle. Für Israel wäre dies vermutlich die gefährlichste Variante.
3. Szenario: Die Palästinensische Autonomiebehörde kehrt zurück
Die Palästinensische Autonomiebehörde, die seit 1994 in Koordinierung mit israelischen Stellen Teile des Westjordanlandes regiert, verwaltet auch den Gazastreifen. Diese Konstellation gab es bereits nach dem Rückzug Israels aus der Küsten-Enklave im Jahr 2005. Doch 2006 gewann die islamistische Hamas die Parlamentswahlen im Gazastreifen vor der gemäßigteren Fatah, die im Westjordanland die beherrschende Kraft ist. Eine Regierung der Nationalen Einheit zwischen Hamas und Fatah führte zu einem blutigen Bürgerkrieg. 2007 verjagte die Hamas die Fatah und regiert seitdem den Gazastreifen.
Das Problem hierbei: Mahmud Abbas, der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah, hat wenig Interesse an dieser Variante. „Ich glaube nicht, dass irgendjemand so dumm sein kann zu glauben, dass Abbas auf einem israelischen Panzer nach Gaza zurückkehren kann“, sagt Ghassan al-Khatib, ein ehemaliger Planungs- sowie Arbeitsminister der Autonomiebehörde.
Darüber hinaus ist der Gazastreifen für palästinensische Polizisten sehr wahrscheinlich feindliches Terrain. Die Autonomiebehörde beschäftigt etwa 60.000 Sicherheitskräfte, die rund ein Drittel des Westjordanlandes kontrollieren. Aber selbst dort sind sie nicht überall Herr der Lage. In Städten wie Dschenin oder Nablus ist die Stimmung derart aufgeladen, dass die palästinensischen Polizisten vor Patrouillen zurückschrecken, um nicht angegriffen zu werden. Haben diese Ordnungshüter wieder die Verantwortung für den Gazastreifen, werden sie zur Zielscheibe für die Reste der Hamas, den Islamischen Dschihad oder andere Terrorgruppen.
Hinzu kommt ein Loyalitäts-Problem. Nachdem die Hamas 2007 die Macht ergriffen hatte, befahl Präsident Abbas seinen nach Gaza entsandten Beamten, ihre Arbeit einzustellen. Die Hamas heuerte daraufhin ungefähr 40.000 treu ergebene Unterstützer an, die als Staatsdiener einsprangen. Die Autonomiebehörde bezahlte jedoch ihre Beamten weiter, obwohl diese zu Hause blieben. Werden die Hamas-Bürokraten entlassen, droht eine ähnliche Situation wie nach dem Sturz des Diktators Saddam Hussein im Irak 2003: Eine Legion junger arbeitsloser Männer radikalisierte sich.
4. Szenario: Eine Ersatzverwaltung aus lokalen Würdenträgern wird gebildet
Israel baute bis Anfang der 1990er Jahre auf eine derartige Ersatzregierung. Die Konstellation hielt, bis 1994 die Palästinensische Autonomiebörde gegründet wurde, die bis 2006 das Westjordanland und den Gazastreifen verwaltete. Die Herausforderung, eine palästinensische Regierung zu bilden, wird aber durch die erbitterten Grabenkämpfe zwischen Hamas und Fatah erschwert. Im Gazastreifen wie um Westjordanland gibt es eine autoritäre Ein-Parteien-Herrschaft. Die Hamas ist islamistisch, die Fatah unter Präsident Abbas gilt als korrupt. Zudem sehen viele Palästinenser den 87-Jährigen wegen seiner Zusammenarbeit mit Israel in Sicherheitsfragen als zu weich an.
Nach einer Umfrage der in Ramallah angesiedelten Denkfabrik Palestinian Center for Policy and Survey Research würden 65 Prozent der Bevölkerung im Gazastreifen im direkten Vergleich für den politischen Hamasführer Ismail Hanija stimmen. Abbas würde selbst im Westjordanland verlieren. Bei einer Parlamentswahl im Gazastreifen käme die radikale Hamas auf 44 Prozent und Abbas‘ moderatere Fatah auf 28 Prozent. 80 Prozent aller Palästinenser wollen, dass Abbas zurücktritt. Doch ein Nachfolger ist weit und breit nicht in Sicht.
5. Szenario: Arabische Staaten entsenden eine Friedenstruppe in den Gazastreifen
Die Idee einer Rolle für arabische Staaten in Gaza wurde in der Region ventiliert – aber nur hinter vorgehaltener Hand. Kein Land will wirklich Verantwortung übernehmen. Ägypten ist im Gazastreifen nicht populär. Zum einen, weil es zusammen mit Israel den Küstenstreifen immer wieder abgeriegelt hatte. Zum anderen, weil die ägyptische Verwaltung von 1948 bis 1967 für viele nicht in guter Erinnerung ist. Auch die Vereinigten Arabischen Emirate wollen sich in Gaza ebenso wenig die Finger verbrennen wie Saudi-Arabien.
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Hingegen würde eine Mitwirkung Katars, das im Gazastreifen großen Einfluss hat, wahrscheinlich von Israel abgelehnt werden. Seit Jahren unterstützt das Emirat zwar die Küsten-Enklave mit bis zu 30 Millionen Dollar pro Monat für soziale Einrichtungen, Beamtengehälter und Sprit – die Regierung in Jerusalem hatte dies auch gebilligt. Allerdings stieß die Beherbergung der politischen Hamas-Führer in der katarischen Hauptstadt Doha in Israel auf großes Misstrauen.
Fazit:
Alle fünf aufgezeigten Szenarien bringen keine dauerhafte Stabilität in den Gazastreifen. Ohne eine politische Perspektive für die grundsätzliche Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts scheint dieses Ziel in weiter Ferne. Israel mag es gelingen, mit einer Bodenoffensive die Kommandozentralen der Hamas zu vernichten. Aber es ist zweifelhaft, ob danach etwas Besseres an die Stelle der Hamas tritt.
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