Jerusalem. Der frühere israelische Ministerpräsident Ehud Barak befahl mehrere Geiselbefreiungen – und erklärt, warum die Situation so heikel ist.

Bei dem Angriff der radikalislamischen Terrororganisation Hamas auf Israel wurden israelischen Angaben zufolge knapp 200 Menschen in den Gazastreifen verschleppt. Unter ihnen befinden sich auch mehrere deutsche Staatsbürger. Der frühere israelische Ministerpräsident und Verteidigungsminister Ehud Barak befahl als Kommandant der Armee mehrere komplexe Geiselbefreiungen. Im Interview spricht er über die Herausforderungen bei der Befreiung der Geiseln und die bevorstehende israelische Bodenoffensive im Gazastreifen.

Israel steht vor einem Dilemma: Die Armee muss die Terrorinfrastruktur der Hamas zerstören, aber zugleich die rund 200 Geiseln beschützen, die von der Hamas im Gazastreifen festgehalten werden. Wie kann das klappen?

Ehud Barak: Es ist extrem heikel. Die Frage der Geiseln steht weit oben auf der Agenda des Kriegskabinetts, und es gibt spezielle Beauftragte dafür, mit viel Erfahrung im Mossad. Es wird intensiv daran gearbeitet, in Abstimmung mit vielen Staaten. Es ist eine extrem komplizierte Angelegenheit.

Was macht es so kompliziert?

Barak: Die Entscheidungen werden in Gaza von den militärischen Anführern der Hamas, nicht vom politischen Flügel. Die Militärs sind aber alle im Untergrund, auf verschiedene Tunnel verteilt. Ihr Kontakt zueinander ist lückenhaft, umso mehr ihr Kontakt zur Außenwelt. Das macht es schwierig, da heranzukommen.

Welchen Plan hat die Hamas für die Geiseln?

Barak: Ich vermute, dass die Hamas einen gewissen Anreiz hat, die allermeisten Geiseln mit nicht-israelischen Pässen freizulassen.

Warum?

Barak: Damit sie den Stempel einer IS-ähnlichen Organisation loskriegt, den sie ja seit den grauenhaften, barbarischen Massakern trägt. Dieses Image schadet ihr in der Welt. Sie könnten versuchen, das abzuschwächen, indem sie die Ausländer freilässt. Allerdings hat sie dann immer noch genug israelische Geiseln, um eine Tragödie hervorzurufen.

Den Ruf, wie der IS zu operieren, hat sich die Hamas ja selbst zugetragen, indem sie ihre Massaker gefilmt und ins Netz gestellt hat. Warum sollte sie sich jetzt plötzlich um ihren Ruf sorgen?

Barak: Die Hamas-Leute haben zwei Tendenzen. Sie wollten die Welt terrorisieren, in dem sie die Bilder veröffentlichten. Aber als sie sahen, wie die ganze Welt hinter Israel stand, spürten sie vielleicht einen gewissen Druck. Ich weiß das nicht mit Sicherheit, aber das erscheint mir ihre Logik zu sein.

Angenommen, die Hamas lässt tatsächlich alle ausländischen Geiseln frei und behält die Israelis: Macht es das für die israelische Armee leichter, an die übrigen Geiseln heranzukommen?

Barak: Nein, das macht es sogar komplexer. Solange es Geiseln aus der ganzen Welt gibt, könnte die Hamas vorsichtiger agieren. Sobald es nur noch israelische Bürger sind, könnte das Ganze sehr grausam und unvorhersehbar werden.

Ehud Barak

Ehud Barak war 1999 bis 2001 Ministerpräsident von Israel und von 2007 bis 2013 israelischer Verteidigungsminister. Zuvor war er Armeechef. Als Kommandant der Armee befahl er mehrere komplexe Geiselbefreiungen. Geboren wurde Barak 1942 in einem Kibbuz. Seine Eltern waren polnische Juden, die in den 1930er Jahren nach Palästina ausgewandert waren. Mitte der 90er Jahre wandte sich Barak der Politik zu, wurde für die Arbeitspartei erst Innen-, dann Außenminister. Als Regierungschef versuchte Barak, den Friedensprozess mit den Palästinensern neu zu beleben – allerdings ohne Erfolg.

Israel kann kann nicht zugleich die Sicherheit der Geiseln garantieren und die Hamas vernichten. Haben Sie auch den Eindruck, dass die Priorität der Armee auf dem Schlag gegen die Hamas liegt, weil die Zukunft von neun Millionen Israelis wichtiger erscheint als das Überleben von 200 Geiseln?

Barak: Das ist ein sehr heikles Thema. Ich glaube nicht, dass es hilfreich ist, die Lösung dieses Dilemmas öffentlich zu debattieren. Ich weiß, es gibt die Versuchung, mich danach zu fragen, weil ich bei dieser und jener Geiselbefreiungsmission dabei war. Es ist aber nicht klug, das über Medien zu diskutieren.

Wenn wir aber an die Bodenoffensive denken, die kurz bevorsteht: Angenommen, die Armee zielt auf einen Hamas-Stützpunkt und erhält dann Hinweise, dass sich dort zwei Geiseln befinden: Soll die Armee trotzdem angreifen oder die Geiseln befreien – und damit riskieren, dass sich der Krieg noch weiter in die Länge zieht und viele Tote auf beiden Seiten fordert?

Barak: Sie versuchen, mir dieselbe Frage auf andere Weise zu stellen. Ich will in diese Details nicht eintauchen, und ich glaube auch nicht, dass jemand anders, der etwas davon versteht, es tun würde. Es wäre dumm, diese Details mit der Hamas zu teilen.

Dann sprechen wir darüber, wie es weitergehen könnte: Wie lange dauert es, die Hamas militärisch auszuschalten?

Barak: Wir müssen alle militärischen Kapazitäten der Hamas auslöschen. Wir wären froh, könnten wir das aus der Luft erledigen, aber das ist unmöglich. Wir brauchen Soldaten auf dem Boden, vermutlich sehr viele. Sie werden von Haus zu Haus gehen, und es gibt viele Häuser in Gaza, und sie werden jeden Raketenstützpunkt, jedes Geschütz vernichten und die Täter, die an diesem Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt waren, aus dem Verkehr ziehen. Das wird wohl rund zwei Wochen dauern. Danach brauchen wir wohl noch weitere zwei bis drei Monate, um Gaza endgültig von der Hamas zu befreien. Wir stehen da aber vor mehreren Einschränkungen.

Die große Zahl der Geiseln ist eine dieser Einschränkungen?

Barak: Ja. Eine zweite Einschränkung ist, dass wir möglichst verhindern wollen, dass sich der Konflikt auf die Region ausbreitet.

Wenn es gelingt, Gaza aus den Händen der Hamas zu befreien: Was kommt danach? Israel als Besatzer des Gazastreifens?

Barak: Wir müssen überlegen, an wen wir die Fackel weiterreichen. Wir haben nicht vor, dort zehn Jahre lang zu bleiben, also brauchen wir einen Ansprechpartner. Vorzugsweise wäre das ein Bündnis mehrerer arabischer Staaten, das drei bis sechs Monate lang die Übergabe an den einzigen international anerkannten Vertreter der Palästinenser organisiert – also an die Palästinenserbehörde. So war es ja auch ursprünglich gedacht, dann putschte sich aber die Hamas in Gaza an die Macht.

Sind Sie zuversichtlich, dass das gelingen wird? Palästinenserpräsident Machmud Abbas ist selbst nicht demokratisch legitimiert und höchst umstritten.

Barak: Ich bin mir nicht sicher, dass die Arabischen Staaten und die Palästinenser dazu bereit sind, und keinesfalls können wir es ihnen auferlegen. Das ist ein Fragezeichen.