Berlin. Rekordhitze an Land und in den Meeren, Wetterextreme fast überall: Warum die Klimaveränderungen 2023 selbst Experten überraschen.
Als hätte der Sommer eine Ehrenrunde eingelegt: Der September brachte T-Shirt-Wetter und eine verlängerte Eis- und Freibadsaison in weiten Teilen Deutschlands. Das fühlte sich nicht nur außergewöhnlich an. Daten bestätigen, dass der vergangene Monat der wärmste September war, der in Deutschland je gemessen wurde. Und das mit Abstand: Im Vergleich zu den Jahren 1991 bis 2020 lag die Temperatur 3,4 Grad Celsius über dem Mittel. Verglichen mit 1961 bis 1990 sind es sogar 3,9 Grad, sagt Peter Bissolli vom Deutschen Wetterdienst. „Die bisherigen September-Rekorde 2006 und 2016 sind deutlich übertroffen worden.“
Der vergangene Monat fügt sich damit in die Entwicklung des gesamten Jahres. Denn 2023 ist ein Jahr der Extreme – und zeigt die Auswirkungen der Klimakrise so deutlich, dass selbst Experten überrascht sind.
Und das nicht nur in Deutschland. In vielen Datenreihen, die den Zustand des globalen Klimasystems zeigen sollen, liegt 2023 nicht nur ein bisschen über den Temperaturen der vergangenen Jahre und dem langjährigen Schnitt, sondern deutlich darüber. Die Kurven lesen sich wie die Messungen eines Patienten, der immer stärker fiebert.
48 Prozent der Meere erlebten gleichzeitig eine Hitzewelle
Laut dem EU-Klimawandeldienst Copernicus war der Sommer auf der Nordhalbkugel in diesem Jahr der heißeste jemals gemessene. „Es war nicht in einigen Gegenden zu heiß, sondern praktisch überall“, sagt Bissolli. Eine deutliche Erwärmung für die frühen 2020er-Jahre hätten Klimamodelle zwar schon in den 1980er-Jahren vorhergesagt. „Überraschend ist die globale Ausdehnung in diesem Jahr.“
Auch in den Meeren sammelt sich die Hitze: Zwischen dem 31. Juli und dem 31. August lag die durchschnittliche weltweite Oberflächentemperatur der Meere an jedem einzelnen Tag über dem vorherigen Rekordwert aus dem Jahr 2016. Laut der US-Wetter- und Ozeanografie-Behörde NOAA erlebten im August 48 Prozent der Weltmeere eine marine Hitzewelle.
Anders Levermann, Physiker und Klimawissenschaftler am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), fasst die Gleichzeitigkeit dieser Entwicklungen so zusammen: „Das Klimasystem fliegt uns gerade um die Ohren.“ Auch er betont, dass die Modelle der Klimawissenschaft eine solche Entwicklung seit 20 bis 30 Jahren vorhergesehen hätten. „Aber was gerade passiert, überrascht mich doch.“ Jegliche Hoffnung, dass es vielleicht doch nicht so schlimm kommen könnte, habe sich nicht bewahrheitet. Dazu kämen Phänomene, die die Wissenschaft vor einigen Jahren noch nicht habe modellieren können, wie die Dynamik des Jetstreams. „Wir erleben eine Beschleunigung der Folgen des Klimawandels“, sagt Levermann.
Die Folge sind nicht nur Hitzewellen wie die, die große Teile Südeuropas über den Sommer im Griff hatten, sondern auch heftigere Stürme. Die physikalischen Grundlagen dahinter, erklärt Levermann, seien simpel. Denn Stürme beziehen ihre Energie aus der Oberflächentemperatur des Wassers. Und die steigt. „Mit jedem Grad Erwärmung kann die Luft sieben bis acht Prozent mehr Feuchtigkeit aufnehmen, entsprechend mehr kommt lokal dann auch herunter.“ Das bedeutet stärkere Stürme und Starkregen, aber auch heftigeren Hagel und extreme Schneefälle.
Klimakrise: „Jahrhundertereignisse“ in immer kürzeren Abständen
Welche Wucht diese Niederschläge entfalten können, war in diesem Sommer immer wieder zu beobachten. In Norditalien wüteten Unwetter so heftig, dass zwei Menschen starben. In Süddeutschland brachten sie Hagelkörner, die Dächer abdeckten und Wildtiere erschlugen. Und Sturm Daniel überschwemmte erst Teile Griechenlands innerhalb von 24 Stunden mit mehr Wasser, als in Berlin in einem Jahr fällt, und zog dann weiter nach Libyen, wo unter dem Druck der Wassermassen zwei Dämme brachen und die Flut mehr als 10.000 Menschen in den Tod riss.
Eine Analyse des Forschungsteams World Weather Attribution, das den Zusammenhang der Klimakrise mit einzelnen Extremwetterereignissen untersucht, kommt zu dem Schluss, dass Regenfälle, wie sie innerhalb eines Tages über Libyen niedergingen, sonst einmal in 300 bis 600 Jahren stattfinden. Doch genau diese Extreme werden häufiger, erklärt Levermann. „Die Klimakrise verschiebt die gaußsche Glockenkurve. Was vorher ein Jahrhundertereignis war, ganz rechts auf der Kurve, ist jetzt deutlich häufiger.“ Das gilt für extreme Niederschläge ebenso wie für Hitzewellen. So weit verschiebt sich die Kurve, dass Begriffe wie „Jahrhundertereignis“ inzwischen ihre Bedeutung verlören. Je näher aber Extremwetterereignisse und extreme Schäden beieinanderliegen, desto schwieriger wird es, Schäden zu beseitigen und wieder aufzubauen.
Diese Entwicklung zu stoppen sei „schwierig, aber nicht kompliziert“, sagt Levermann. „Wir müssen einfach nur aufhören, Öl, Gas und Kohle zu verbrennen und Bäume zu fällen.“ In den kommenden 20 Jahren müssten die globalen Treibhausgasemissionen auf null sinken. Solange weiter CO2 in die Atmosphäre gelange, steige auch die Temperatur. Wegen einer Verzögerung im Klimasystem stoppt die Erwärmung auch bei null Emissionen allerdings nicht sofort, so Levermann. „Die Entwicklung der nächsten 20 Jahre haben wir schon verursacht. Die Jahre, die dann kommen, bestimmen wir durch unser politisches Handeln jetzt.“
Ob das politische Bremsmanöver gelingt, ist offen. Fest steht, dass es in den kommenden Jahren weiter wärmer und damit extremer wird.
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