Kabul. Frauen dürfen in Afghanistan nicht arbeiten – außer im Gesundheitswesen. Wie zwei Ärztinnen diese Freiheitslücke für sich nutzen.
Die jungen Frauen stehen etwas abseits des Operationstisches und schauen gespannt zu, wie der Arzt das Bein des Jungen auftrennt und den Knochen freilegt. Sie flüstern leise miteinander, machen Fotos. „Ich möchte auch Chirurgin werden, so Gott will“, sagt eine. Sie sind Praktikantinnen, die gerade ihr Studium beendet haben. Wenn es schlecht läuft in Afghanistan, werden sie für lange Zeit die letzten Medizinerinnen sein, die in dem Land am Hindukusch ausgebildet werden. Noch arbeiten aber viele Frauen im Gesundheitssektor, so wie im Cure-Hospital in der afghanischen Hauptstadt.
Anfang Oktober ist es in Kabul noch immer warm. Der Verkehr quält sich am Vormittag durch die Straßen im Zentrum. Die Abgase alter Autos und Motorräder wabern in der Luft. Vor den staubbedeckten Verkaufsständen und Geschäften sind immer wieder Frauen zu sehen. Alle tragen Kopftuch, viele zeigen ihr Gesicht. Die blaue Burka trägt so gut wie keine. Im vergangenen Jahr haben die islamistischen De-Facto-Herrscher des Landes im 500 Kilometer entfernten Kandahar einen Erlass verkündet, wonach Frauen nur noch vollverschleiert und in Begleitung eines männlichen Vormunds das Haus verlassen dürfen. Noch scheinen die Religionspolizisten – Männer mit langen schwarzen Bärten und weißen Kitteln – das Gebot nicht durchsetzen zu können oder zu wollen.
Das Cure-Hospital liegt an der Darulaman-Straße im Süden Kabuls. Das Krankenhaus hat eine lange Geschichte. In den 90er-Jahren wurde der Gebäudekomplex bei den brutalen Kämpfen zwischen mächtigen Kriegsherren zerstört, so wie die gesamte afghanische Hauptstadt. Nach dem Ende der ersten Taliban-Herrschaft wurde es mit ausländischer Hilfe wieder aufgebaut. Es ist umgeben von einer Mauer. In einer Eingangsschleuse untersuchen Wächter ankommende Fahrzeuge auf Bomben.
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Wenn die Ärztinnen Suraya Aizad Ponah und Ferozan Sedigi hier morgens gegen 7.30 Uhr zum Dienst erscheinen, können sie zu dieser Jahreszeit den Duft der Rosen riechen, die in einem großen Beet vor dem eingeschossigen Gebäude mit der weißen Ziegelfassade wachsen. Im Cure-Hospital ist der Anteil der weiblichen Beschäftigten hoch. 143 der rund 300 Mitarbeiter im Krankenhaus sind Frauen.
„Ich wollte schon als Kind Ärztin werden“
Die Gynäkologin Dr. Sedigi arbeitet seit 15 Monaten in dem Krankenhaus. Medizinerin zu werden, war für sie ein steiniger Weg. Sie hat im pakistanischen Peschawar studiert. Ihre Familie war während der ersten Herrschaft der Taliban von Kabul aus dorthin gezogen. „Ich wollte schon als Kind Ärztin werden, ich wollte die erste Medizinerin in unserer Familie sein“, erzählt die 37-Jährige. Nachdem sie ihr Studium 2015 beendet hatte, arbeitete sie mehrere Jahre in einem Krankenhaus in der Provinz Nangarhar im Osten des Landes. Schon zu dieser Zeit hatte sie es als Frau nicht leicht, sich gegen die männlichen Kollegen zu behaupten. Aber sie machte ihren Weg, der sie zurück in die Hauptstadt führte.
Sedigi ist Mutter zweier kleiner Töchter, ihr Ehemann arbeitslos. Mit den umgerechnet etwa 400 Euro, die sie im Monat verdient, muss sie die Familie durchbringen. Manchmal, sagt sie, beschleiche sie die Furcht, eines Tages nicht mehr zur Arbeit gehen zu können. Die Angst ist nachvollziehbar. In den vergangenen Monaten hat die Führung der Taliban trotz internationaler Proteste die Rechte von Frauen weiter eingeschränkt. Aus Behörden und Universitäten sind Frauen mittlerweile verbannt. Der Gesundheitssektor ist ausgenommen von dem Arbeitsverbot. Bei semistaatlichen Organisationen wie dem Afghanischen Roten Halbmond sind Tausende Frauen beschäftigt. Ohne Frauen würde das Gesundheitssystem des Landes kollabieren.
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Nach der erneuten Machtübernahme der Taliban vor zwei Jahren haben viele Mediziner Afghanistan verlassen. Dr. Sedigi hat sich entschieden zu bleiben. „Wir müssen für unsere Leute da sein“, sagt sie. „Das Hauptziel von Ärzten sollte es doch sein, Menschen zu helfen.“ Hilfe ist bitter nötig. Die wirtschaftliche Lage ist katastrophal. Insbesondere in den Provinzen des Landes leiden die Menschen an Unterernährung. Das merkt auch die Ärztin im Kontakt mit ihren Patientinnen. „Bei immer mehr Schwangerschaften gibt es Komplikationen, weil die Frauen nicht ausreichend ernährt sind.“ Die Kindersterblichkeit in Afghanistan ist eine der höchsten weltweit.
Werden keine Ärztinnen mehr ausgebildet, steuert das Land auf eine Katastrophe zu
Das rigide Studienverbot für junge Frauen ist auch unter den Taliban umstritten. Nach ihrer Lesart dürfen Frauen nur von Frauen behandelt werden. Werden keine Medizinerinnen mehr ausgebildet, steuert das Land mittelfristig auf eine noch größere Katastrophe zu. Der Universitätsbann für Frauen sei nur temporär und habe lediglich organisatorische Gründe, behaupten einige Führungskader.
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Dr. Suraya Aizad Ponah hat im Jahr 2000 ihr Studium abgeschlossen, während der Zeit der ersten Taliban-Herrschaft. Sie gilt als die beste plastische Chirurgin des Landes und ist stellvertretende Chefärztin in ihrer Abteilung im Cure-Hospital. Ihre Spezialität ist die Korrektur von Kiefer-Gaumenspalten, die in Afghanistan häufig auftreten. Auch diese Fehlbildung kann durch Unterernährung verursacht werden. Wie ihre Kollegin ist Dr. Ponah aus Überzeugung Medizinerin.
„Meine Mutter war sehr lange sehr krank. Da habe ich beschlossen, Ärztin zu werden“, erzählt die 49-Jährige. Nach ihrem Studium arbeitete sie erst in einem Regierungskrankenhaus, seit der Eröffnung des Cure-Hospitals ist sie hier fest angestellt. Wie Dr. Sedigi ist auch sie die Haupternährerin der Familie. Ihr Mann leidet unter Rheuma und Bluthochdruck, die beiden Söhne wollen Mediziner werden. Wer zu Hause der Chef ist? „Ich“, sagt sie und lacht. „Männer haben vielleicht eine größere körperliche Kraft, aber Frauen haben die größere mentale Stärke.“
„Sie wollen selbst von mir behandelt werden. Sie wissen, wie gut ich bin“
Dr. Ponah glaubt nicht, dass die Taliban Frauen aus dem Gesundheitssektor ausschließen werden. „Frauen werden dringend gebraucht. Ohne sie geht es nicht.“ Der aktuelle Universitätsbann könnte auch ein Versuch sein, von der internationalen Gemeinschaft Zugeständnisse zu erzwingen. „Spiele mit den Rechten von Frauen werden weltweit gespielt.“ Während der ersten Taliban-Herrschaft, beteuert sie, seien die Islamisten deutlich härter gegen Frauen vorgegangen und hätten beispielsweise Kleidungsvorschriften mit Gewalt durchgesetzt.
Nachdem sie die afghanische Hauptstadt übernommen hatten, hätten die Taliban darauf gedrängt, dass männliche Patienten nicht von ihr behandelt werden, erinnert sie sich. Das hat sich mittlerweile geändert. „Jetzt schicken sie mir Patienten oder wollen selbst von mir behandelt werden. Sie wissen, wie gut ich bin“, sagt sie selbstbewusst und lächelt. Jedoch bedauert es Dr. Ponah sehr, dass sie nicht mehr zu Mediziner-Konferenzen ins Ausland reisen kann. „Früher war ich oft in Indien, das geht jetzt nicht mehr.“ Diese Erfahrung machen allerdings auch ihre männlichen Kollegen. Menschen aus Afghanistan bekommen so gut wie keine Visa mehr.