Kabul/Berlin. Vor zwei Jahren haben die Taliban die Macht in Afghanistan übernommen. Drei Frauen berichten, wie leidvoll der Alltag in dem Land ist.
Die junge Frau mit dem schmalen Gesicht blickt selbstbewusst, aber traurig in die Kamera. „Hoffnung ist alles, was uns noch bleibt. Aber wir verlieren die Hoffnung auf eine Zukunft“, sagt die 19-Jährige. Sie spricht gutes Englisch. Bis vor einem Jahr hat Leema Medizin studiert. Jetzt verbringt sie ihre Tage zu Hause. Die islamistischen Machthaber Afghanistans, die Ta<bliban, haben ihr verboten, weiter zu studieren. Die Lage im Land am Hindukusch wird von Monat zu Monat schlimmer. Nicht nur für junge Frauen wie Leema.
Kabul, Mitte August vor zwei Jahren. Wenige Wochen zuvor haben die westlichen Truppen, die das Land zwei Jahrzehnte besetzt hatten, Afghanistan verlassen. Es ist ein überhasteter Rückzug. Die Taliban, mit denen der Westen in der katarischen Hauptstadt Doha über die Neuordnung der Macht verhandelt haben, überrennen das Land innerhalb kurzer Zeit. Die afghanischen Soldaten, die jahrelang gegen die Islamisten gekämpft haben, haben dem Ansturm nichts mehr entgegenzusetzen. Der vom Westen unterstützte Präsident Ashraf Ghani flieht aus dem Land. Am 15. August nehmen die Taliban die afghanische Hauptstadt ein.
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20 Jahre westliches Engagement am Hindukusch enden in einem Desaster. Die Bilder von Menschen, die am Flughafen Kabuls verzweifelt versuchen, eines der Flugzeuge zu besteigen, in denen westliche Zivilisten und afghanische Ortskräfte herausgeflogen werden, gehen um die Welt. Am 26. August sprengt sich ein Selbstmordattentäter der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) am Flughafen in die Luft. 183 Menschen, darunter 13 US-Soldaten, sterben. Es ist das blutige Finale einer gescheiterten Mission.
Afghanistan: Jedes fünfte Kind muss arbeiten
Zwei Jahre nach der Machtübernahme der Taliban ist die Lage in Afghanistan katastrophal. „Die wirtschaftliche Situation verschlechtert sich von Tag zu Tag, die Arbeitslosigkeit wird immer größer“, erzählt Sadaf, eine Journalistin aus Kabul. Zu ihrem Schutz kann ihr richtiger Name nicht genannt werden. Viele Hilfsorganisationen haben das Land verlassen, Entwicklungshilfe-Projekte wurden eingestellt, die De-Facto-Machthaber wurden mit scharfen Sanktionen belegt. Darunter leidet das gesamte afghanische Volk.
Drei Viertel der Bevölkerung des Landes, rund 29 Millionen Menschen, sind derzeit nach Angaben der Vereinten Nationen auf humanitäre Hilfe angewiesen, vier Millionen mehr als im vergangenen Jahr. Kaum ein anderes Land ist so sehr von den Folgen des Klimawandels betroffen wie Afghanistan. Eine Dürre hat 40 Prozent des Ackerbodens vernichtet, immer wieder verursacht sintflutartiger Regen Überschwemmungen, bei denen in den vergangenen zwei Jahren Hunderte Menschen ertrunken und etliche Dörfer und Straßen zerstört wurden. Hunger breitet sich aus. Drei Millionen Kinder leiden nach Angaben des Kinderhilfswerks Unicef unter akuter Unterernährung. Mütter können ihre Babys nicht mehr stillen. Der Wassermangel nimmt immer mehr zu, selbst in der Hauptstadt.
„Es ist eine Krise, die Familien massiv betrifft. Afghanistan ist einer der schlimmsten Orte, an denen Kinder aufwachsen können“, sagt Salam Al-Jabani, Sprecher von Unicef in Kabul. Ein Fünftel der Kinder muss arbeiten. Das trifft Jungen wie Mädchen. Wobei vor allem die Jungen „viel zu früh die Bürde tragen müssen, ihre Familien zu ernähren“, erklärt Al-Jabani. Sie schuften in Minen und Ziegelfabriken. Es sind selbst für Erwachsene Knochenjobs. Für den weiblichen Teil der Bevölkerung hat sich nach der Machtübernahme der Taliban das Leben noch entscheidender verändert.
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„Was ist das für ein Land, in dem eine Frau Angst haben muss, auf die Straße zu gehen“
„Die Taliban zwingen immer mehr Frauen, zu Hause zu bleiben, Akademikerinnen, Studentinnen, weibliche Beschäftigte in Regierungsstellen und privaten Büros“, erzählt die Journalistin Sadaf. Sie kann derzeit noch arbeiten. Wie lange das noch sein wird, weiß sie nicht. „Meine Kolleginnen und ich sind sehr besorgt, dass wir nicht mehr arbeiten gehen dürfen. In der aktuellen wirtschaftlichen Situation wäre das die schlimmste aller Strafen“, sagt die Mittdreißigerin. Je mehr die internationale Hilfe ausbleibt, desto radikaler gebärden sich die Taliban. Anfangs schien es noch so, dass sie anders auftreten als in der Zeit ihres ersten Regimes zwischen 1996 und 2001. Weiterführende Schulen waren für Mädchen geöffnet, an den Universitäten konnten junge Frauen studieren. Das ist vorbei.
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„Meine Kommilitoninnen und ich wollten Ärztinnen werden, wir wollten den Menschen in Afghanistan helfen. Jetzt dürfen wir nicht mehr studieren. Die meisten Frauen in Afghanistan sind unglücklich“, klagt Leema. Sie wollte eigenständig und nicht mehr von ihrem Vater abhängig sein, der selbst Akademiker ist. „Jetzt wache ich jeden Morgen auf und weiß, dass ich nichts zu tun habe. Ich sitze nur zu Hause. Das ist sehr bitter.“ Nach draußen auf die Straße wagt sie sich nicht mehr. „Ich habe Angst, den Taliban zu begegnen. Was ist das für ein Land, in dem eine Frau Angst haben muss, auf die Straße zu gehen.“ Die Taliban haben die Frauen aufgefordert, nur noch bei einem triftigen Anlass, in Begleitung eines männlichen Angehörigen und vollverschleiert aus dem Haus zu gehen.
Hinrichtungen, Kinderehen, Menschenhandel – es wird immer schlimmer
Nicht alle Frauen halten sich daran. Noch immer sind in der Hauptstadt Frauen auf der Straße zu sehen, die keinen Gesichtsschleier tragen. Immer wieder kommt es zum Protest von Frauen gegen die Einschränkung ihrer Rechte. Zuletzt, als die Taliban anordneten, Friseursalons für Frauen zu schließen. Jedoch gehen die Taliban härter gegen solche Kundgebungen vor. Das zeigen Videos, die Menschen aus Afghanistan schicken. Auch andere Videos, die in dem Land aufgenommen werden, sind verstörend. Eine Steinigung in Baghlan. Eine kaltblütige Hinrichtung auf offener Straße. Ein Vater, der seine blutjunge Tochter, vielleicht acht oder neun Jahre, zum Kauf anbietet, um den Rest der Familie ernähren zu können. Das alles gab es auch vor der Machtübernahme vor zwei Jahren. Aber es wird schlimmer.
„Zwangsverheiratungen nehmen immer mehr zu“, erzählt Sonita, aus der Provinz Parwan nördlich der Hauptstadt. Sie ist Mutter von drei Kindern, darunter zwei Töchtern, um die sie Angst hat. „Keine Frau hat das Recht, ihren Partner auszusuchen, sie handeln mit Mädchen und bringen sie in Lebensgefahr, wenn sie sie schwängern.“ Mancherorts, sagt Sonita, erlaubten die Taliban den Mädchen nur noch den Schulbesuch bis zu dritten Klasse. „Die meisten Frauen leiden mittlerweile unter mentalen Problemen.“
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Junge Afghanin: „Wenn ich das Land verlassen könnte, wäre das das Beste“
Noch arbeiten Zehntausende afghanische Frauen als Lehrerinnen und im Gesundheitswesen. Selbst in Kliniken in der Taliban-Hochburg Kandahar sind noch weibliche Beschäftigte anzutreffen. Genau das kann die junge Ex-Studentin Leema nicht verstehen. „Ausgebildeten Ärztinnen und Lehrerinnen ist es erlaubt zu arbeiten. Wir dürfen aber nicht weiter studieren. Das ist doch verrückt.“ Sie ist überzeugt: „Die Situation wird nicht besser werden.“ Aktuell lernt Leema Deutsch, ein bisschen kann sie schon sprechen. „Wenn ich das Land verlassen könnte, wäre das das Beste, was mir passieren könnte.“
Die Hoffnung darauf ist aber gering. Die Grenzen zu den meisten Nachbarländern sind dicht. Visa nach Pakistan kosten 1300 Dollar, Visa in den Iran, wo afghanische Flüchtlinge extrem schlecht behandelt werden, immerhin noch 400 Dollar. Das ist für die meisten Menschen in Afghanistan unerschwinglich.