Mazar-e Sharif. Zwei Jahre Taliban-Herrschaft: Sie bauen in Afghanistan ein Regime auf, sprechen von “Sicherheit“. Selbst Ex-Kämpfer wenden sich ab.
„In Mazar-e Sharif gibt es nur zwei Jahreszeiten. Sommer und Winter“, sagt Hila Mohammadi*. Das Tragen ihrer schweren, schwarzen Kleidung und ihres Schleiers fällt ihr zurzeit besonders schwer. Kein Wunder, denn in Mazar-e Sharif in der Provinz Balkh im Norden Afghanistans herrschen in diesen Tagen meist weit über 40 Grad.
Mohammadi, 48, ist Lehrerin – und trotz der erdrückenden Hitze, die die Gesundheit vieler Afghanen gefährdet, herrscht weiterhin Schulbetrieb. „Hitzeferien würden den Unterricht zurückwerfen, meinen die Taliban“, sagt Mohammadi.
Dass die Taliban keine Sommerferien erlauben, verwundert. Seit vor zwei Jahren die Extremisten die Regierung übernommen haben, gibt es schwere Rückschritte bei der Bildung: Mädchen dürfen nicht mehr die Oberstufe von der 7. bis zur 12. Klasse besuchen.
Afghanistan: Schulen zu, Unis zu – und immer voll verschleiert
Seit Ende vergangenen Jahres besteht außerdem ein Universitätsverbot für Afghaninnen. In manchen Regionen des Landes, die in den letzten zwanzig Jahren des Krieges vernachlässigt wurden, spielen die Verbote der Taliban allerdings keine so große Rolle, weil es gar keine Mädchenschulen oder Universitäten gibt – obwohl korrupte Beamte ausländische Gelder dafür akquiriert hatten.
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Diese sogenannten „Geisterschulen“ gehören zur größten Schande der westlichen Intervention in Afghanistan. In Balkh, wo Hila Mohammadi die Unterstufen unterrichtet, war das anders. „Hier wird schon lange Wert auf Bildung gelegt“, sagt die Lehrerin. Sie erinnert an historische Persönlichkeiten wie die Dichterin Rabia Balkhi aus dem 10. Jahrhundert.
Mohammadi unterrichtet nun Unterstufen. Wo die Schulen geöffnet sind, sind die Kleidervorschriften streng. Männer müssen Bart und Käppchen tragen, Frauen sich streng verhüllen. Für das Gesicht ist eine schwarze medizinische Maske vorgeschrieben – obwohl die Corona-Pandemie längst vorbei ist. Die Maske erscheint aus Sicht der neuen Machthaber praktischer als ein Schleier.
Die Schönheitssalons ist Afghanistan sind auch dicht
Verhüllt und maskiert: Zu diesen Vorschriften passt das Verbot von Schönheitssalons. Die massenhafte Schließung der Betriebe sorgte in letzter Zeit für Schlagzeilen. Zehntausende von Afghaninnen im ganzen Land mussten ihren Betrieb einzustellen. Eine davon ist Nahida, die ihren Salon in Mazar-e Sharif hatte. „Ich konnte mit meiner Arbeit meine ganze Familie ernähren. Mein Mann ist körperlich behindert und kann deshalb nicht arbeiten. Durch das Verbot wurde meine Existenz praktisch zerstört“, sagt sie.
Mit den Schönheitssalons stirbt eine der letzten Frauenwirtschaften in Afghanistan – und ein Rückzugsort. Vordergründig kritisieren die Taliban die hohen Preise, sprechen von Unsittlichkeit, stellen die Betriebe mit Bordellen gleich. Nahida will nun versuchen, von zu Hause aus zu arbeiten. „Doch wer weiß, wie lange das gut gehen wird?“
Die Menschen empfinden die Sanktionen als unfair
Ob Lehrerin Hila Mohammadi oder die Kosmetikerin Nahida: Frauen verschwinden mehr und mehr aus dem Straßenbild. Und nicht nur das: Während die Welt sich auf andere Kriege und Konflikte fokussiert, dreht sich das Rad der Zeit in Afghanistan zurück. Viele Afghanen fragen sich, was der 20 Jahre lange Einsatz der USA und ihrer Verbündeten gebracht hat.
Neben den Repressalien treffen die Wirtschaftssanktionen die afghanische Bevölkerung. Die ausländischen Devisenreserven des Landes in Höhe von fast zehn Milliarden US-Dollar sind weiterhin eingefroren. Bis heute hat kein Staat der Welt das Taliban-Regime anerkannt. Aus Sicht vieler Afghanen ist das unfair. Ihre Empfindung: Sie werden für das Versagen des westlichen Militäreinsatzes und der Rückkehr der Taliban im Kollektiv bestraft.
Mazar-e Sharif gehört zu jenen Städten, in denen die Menschen besonders unter den Taliban leiden. Einst waren hier Nato-Truppen einschließlich der deutschen Bundeswehr stationiert, während vom Westen subventionierte Warlords in ihren Palästen residierten und mittels fragwürdiger Deals, Korruption und mafiaähnlicher Netzwerke zu Multimillionären wurden.
Die Taliban marschieren mit Kalaschnikows durch die Stadt
Mittlerweile sind nur noch die Taliban präsent. Einst versteckten sie sich in den umherliegenden Dörfern. Nun marschieren sich mit ihren Kalaschnikows durch die Stadt und haben gelernt, die zurückgelassenen Geländewagen ihrer einstigen Feinde zu lieben.
Der neue Bürgermeister der Stadt lebt mit seiner vierzehnköpfigen Familie in einem modernen Hochhaus. Er und einige andere lokale Taliban-Köpfe sind die neuen Nachbarn von Hila Mohammadi und ihrer Familie. „Es gibt viele Probleme, doch niemand traut sich, etwas zu sagen“, sagt einer ihrer Söhne. Die Rede ist von verstopften Abflussrohren durch weggeworfenes Essen, von Motorrad-fahrenden Leibwächtern in den Gängen des Erdgeschosses.
Früher tollten Kinder, Frauen lachten. Jetzt schießen nur noch Taliban Selfies
Die Rawze-ye Sharif, die bekannte blaue Moschee der Stadt, gehört zu den bekanntesten Pilgerstätten Afghanistans. Vor allem Familien besuchten sie in der Vergangenheit. Kinder tollten umher. Frauen lachten, ruhten sich aus, machten Fotos. Nun sind die meisten Fotos, die geschossen werden, Selfies von den Taliban. Frauen müssen draußen bleiben. Das gilt auch für öffentliche Parks. Vom Trubel früherer Zeiten ist nichts mehr übrig, stattdessen herrscht gedrückte Stimmung.
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Daran kann auch das relative Gefühl der Sicherheit nichts ändern, wie sie von den Taliban beschworen wird – zumal für viele frühere Angriffe und Attentate die Extremisten selbst verantwortlich waren. „Was bringt mir diese vermeintliche Sicherheit, wenn ich hier als Frau keine Zukunft habe? Wenn meine Töchter nicht in die Schule gehen dürfen oder nicht studieren können?“, sagt Lehrerin Mohammadi. Der Begriff „Sicherheit“ sei Teil des Taliban-Neusprechs geworden, während persönliche Freiheiten abgeschafft und eine totalitäre Diktatur aufgebaut werde.
Diese Meinung teilen nicht nur jene, die Opfer der neuen Repressalien sind, sondern sogar Männer, die einst auf Seiten der Taliban kämpften. „Ich will mit diesen Leuten nichts mehr zu tun haben. Sie sind tyrannisch und unterdrücken die Bevölkerung“, sagt der dreißigjährige Murtaza, der als Rikscha-Fahrer versucht, über die Runden zu kommen. Heute ist er kahlgeschoren und glattrasiert, doch vor knapp mehr als einem Jahr war Murtaza selbst noch ein Talib. Er trug lange Haare und Bart sowie einen schwarzen Turban.
Erst Soldat, dann Talib – und heute kahlgeschorener Rikscha-Fahrer
Tatsächlich geht seine Vita noch weiter. Vor einigen Jahren war er Soldat der mittlerweile aufgelösten, republikanischen Armee, die von den USA und ihren Verbündeten nach deren Einmarsch Ende 2001 aufgebaut wurde. Wie die meisten Taliban ist auch Murtaza ein Paschtune, der aus einem der umherliegenden Dörfer stammt. „Die Armee beging mit den Amerikanern, die unser Land besetzten, viele Verbrechen. Das wurde mir klar, als ich ein Teil von ihr war“, sagt Murtaza.
Er lief zu den Taliban über und war im Glauben, für eine gerechte Sache zu kämpfen. Gegen Imperialisten, ausländische Besatzer, korrupte Warlords, Kriegsverbrecher und Feinde des Islams. Mit dem Abzug der Nato und dem Fall der afghanischen Regierung vor zwei Jahren kam der Schock.
Die neuen Taliban-Machthaber hatten nun einen neuen Feind: Die afghanische Frau. Jeden Tag gab es neue Repressalien, wurden neue Verbote erlassen. „Sie wollen, dass die einfachen Menschen in diesem Land bluten. Damit will ich nichts zu tun haben. Dafür habe ich nicht gekämpft“, sagt Murtaza wütend.
Er kaufte sich eine Rikscha und beschloss, „halal“ – rein – sein Geld zu verdienen. Durch seine eigene, harte Arbeit. Einmal wurde er von einer Taliban-Patrouille angehalten. Der Grund: Eine Frau war sein Fahrgast. „Mir wurde vorgeworfen, ein Zuhälter zu sein. Da habe ich getobt“, erzählt er heute. Nachdem den Kämpfern klar wurde, dass Murtaza einst einer von ihnen war, ließen sie ihn gehen.
Range Rover, teures Essen, klimatisierte Appartements – so leben Taliban-Führer
Fälle wie jener Murtazas sind kein Einzelfall. Im gesamten Land haben sich viele Taliban-Kämpfer von ihren Führern entfremdet. Sie sehen, wie jene, die sie einst den Krieg schickten, heute in klimatisieren Appartements leben, Range Rover fahren und teures Essen genießen, während vielen Fußsoldaten nicht einmal der reguläre Lohn ausgezahlt wird. Und sie fragen sich, warum sie ihre Mädchen nicht in die Schule oder ihre Frauen nicht zu einem männlichen Arzt schicken dürfen.
Für Aufsehen sorgte etwa auch der Alltag jenes Taliban-Flügels im Golfemirat Katar, wo die Abzugsgespräche mit der Trump-Administration geführt und abgesegnet wurden. Die dortigen Taliban-Führer leben nicht nur im Luxus, sondern schicken ihre Töchter in moderne und säkulare Bildungseinrichtungen.