Washington. Die Abwahl des Chefs des US-Repräsentantenhauses, Kevin McCarthy, hat weitreichende Folgen – nicht nur für die USA. Ein Überblick.
Ist eine Demokratie, in der acht Radikale oder wie auch immer man die Chaos-Agenten bezeichnen will, die den inner-republikanischen Bürgerkrieg in Amerika auf die Spitze getrieben haben, noch stabil zu nennen? Wie kann es sein, dass vier Prozent Parlamentarier einer Fraktion den Willen von 96 Prozent ignorieren und an den Fundamenten des Systems rütteln können? Diese Fragen werden in den kommenden Wochen weit über Washington hinaus Wellen schlagen. Denn der historisch einmalige Rauswurf von Kevin McCarthy, bis Dienstagabend Sprecher des Repräsentantenhauses, stellt eine Zäsur dar. Die wichtigsten Fragen und Antworten:
Abwahl von McCarthy: Was heißt das für die Republikaner?
Die Partei war noch nie so zerrissen und unregierbar, die zerstörerische Kraft in den eigenen Reihen noch nie so groß. Matt Gaetz, der Anführer der „Jakobiner“, die Worte wie „Verständigung” und „Kompromiss” vor langer Zeit aus ihrem Wortschatz gestrichen (oder nie gelernt) haben, ist die „Verkörperung des antidemokratischen Geistes, den der frühere Präsident Donald Trump geweckt hat”, sagen Analysten in Washington.
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Gaetz und die anderen sieben McCarthy-„Killer”, denen über 200 Parteifreunde die Gefolgschaft verweigerten, imitieren die militante Feindseligkeit gegen Andersdenkende, die Fremdenfeindlichkeit, das Autoritäre und das Größenwahnsinnige, das Trumps Präsidentschaft ausgezeichnet habe.
Den Rebellen gehe es nicht darum, mit möglichst breiter Mehrheit Gesetze zu verabschieden, die möglichst vielen Amerikanerinnen und Amerikanern bei der Bewältigung des Alltags helfen. Sie wollten demokratische Politik ausmerzen, den politischen Betrieb sabotieren, von innen zersetzen, aus dem Parlament ein Tollhaus machen und die traditionellen Führungsstrukturen der Republikaner in die Luft jagen. Einfach, weil sie es wegen der hauchdünnen Mehrheitsverhältnisse können.
Als Indiz dafür wird von Beobachtern im konservativen „Wall Street Journal” angeführt, dass die Radikalen weder einen plausiblen Nachfolger für McCarthy aufgebaut haben noch ein schlüssiges Politik-Konzept besitzen, wie es denn besser zu machen wäre.
Kevin McCarthy, das sonnige Gemüt aus Bakersfield in Kalifornien, glaubte bis zuletzt daran, die Aufständischen mit Konzessionen bei den Staatsausgaben domestizieren zu können. Fehleinschätzung. Mehr Mitspracherecht war nie ihr Interesse. Sie wollten verbrannte Erde hinterlassen. Ironischerweise lieferte McCarthy ihnen die „Waffe”, die ihn jetzt „umbrachte”, auch noch frei Haus. Ein Abgeordneter reichte aus, um die Abwahl zu beantragen. Wenn dieses Statut nicht unverzüglich geändert wird (mindestens 20 Parlamentarier müssten für den Abwahlantrag eines Vorsitzenden votieren, sagen Verfassungsrechtler), „ist der nächste Eklat programmiert”, prophezeien gemäßigte Republikaner.
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Was heißt das für die Demokraten?
Sie hätten McCarthy mit ihren am Dienstagabend 208 verfügbaren Stimmen mit Leichtigkeit retten können. Hakeem Jeffries, ihr Anführer, hat aber bewusst darauf verzichtet, weil dies vor allem im linken Spektrum seiner Fraktion nicht vermittelbar gewesen wäre. Dort nimmt man mehr als übel, dass McCarthy das unter Beweismangel leidende Amtsenthebungsverfahren gegen Joe Biden unterstützt und zuletzt die Chuzpe hatte, wider besseres Wissen, die Demokraten für den jüngst abgewendeten Regierungsstillstand verantwortlich zu machen.
Die stille Genugtuung über den „Königsmord” im gegnerischen Lager könnte aber von kurzer Dauer sein, vermuten Experten in Washingtoner Denkfabriken. „Nach McCarthy könnte jemand in die Führungsrolle geraten, der noch unfreundlicher mit den Demokraten umspringt.” Am Ende, so sind sich US-Kommentatoren einig, werden die Demokraten keinen Honig aus der Affäre saugen können. „Das in der Bevölkerung massiv in Misskredit geratene Parlament wird insgesamt weiter an Ansehen verlieren.”
Was heißt das für die USA?
Der Austausch von Top-Personalien bringt immer Reibungsverluste mit sich. Bei Kevin McCarthy können sie besonders schwerwiegend sein. Das US-Parlament steht vor einer Reihe schwieriger und wichtiger Entscheidungen, von denen zig Millionen Menschen betroffen sind. Bis Mitte November muss ein neuer Staatshaushalt verabschiedet werden. Andernfalls droht eine Neuauflage des Regierungsstillstands, den McCarthy mit Hilfe der Demokraten am vergangenen Wochenende in letzter Minute abgebogen hatte. Unter anderem darum wurde er von den Hardlinern, die Kompromisse mit dem Gegner für eine Todsünde halten, rausgeworfen.
Wann die Konservativen sich auf einen Nachfolger verständigen werden, ist offen. Eine Wahl ist von dem Republikaner Patrick McHenry (47), der als kommissarischer Chef des Repräsentantenhauses fungiert, für nächsten Mittwoch vorgesehen. Gehandelt wird derzeit Steve Scalise, ein McCarthy-Anhänger. Aber die Nummer Zwei der Republikaner ist krebskrank und steckt akut in einer Chemo-Therapie. Auch der „Einpeitscher” (whip) Tom Emmer wird genannt. Wie auch der radikale Trump-Fan Jim Jordan, der als Vorsitzender des Justizausschusses im Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Joe Biden eine Schlüsselrolle spielt.
Alles keine Konsens-Kandidaten, auf die sich die heillos zersplitterte Partei schnell einigen könnte. Darum ist eine Hängepartie nicht ausgeschlossen. Zumal nicht wirklich klar ist, was der oder die „Neue” denn substanziell anders machen soll als McCarthy – außer den radikalen, kaum mehrheitsfähigen Forderungen der Extremisten aus dem rechten Winkel der Fraktion Folge zu leisten.
In dieser Zeit wäre Entscheidungsstau, sämtliche Gesetzgebung käme zum Erliegen. Ohne einen „speaker” im Repräsentantenhaus, der im Staatsgefüge hinter Präsident und Vizepräsidentin die Nummer Drei ist, läuft nichts; vor allem nicht die wichtige Verständigung mit der zweiten Kammer des Parlaments, dem Senat, der bei vielen Themen das letzte Wort hat.
Was heißt das für die Ukraine?
Der gerade mit Ach und Krach zusammengeschusterte US-Nothaushalt, der am 17. November ausläuft, kam nur zustande, weil frische Ukraine-Finanzhilfen ausgeklammert wurden. Präsident Joe Biden hatte 24 Milliarden Dollar zusätzlich beantragt – blockiert. Wo dieses Geld in sechs Wochen herkommen soll, ist heute schleierhaft. Die durch die Ausschaltung von McCarthy siegesbesoffenen Rebellen bei den Republikanern werden nach Ansicht interner Augenzeugen ihren Widerstand gegen Militärhilfen für Kiew noch weiter verstärken und mit dem Finger auf Europa, gesondert Deutschland zeigen.
Tenor: „Sollen die doch mehr Geld und Waffen für Präsident Selenskyj bereitstellen.” Darum muss sich erst noch zeigen, was die jüngsten Beteuerungen des Weißen Hauses gegenüber den westlichen Verbündeten wert sind, wonach der Fortbestand des US-Engagements für die Ukraine gesichert sei.
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Randnotiz: Was bedeutet das für Donald Trump?
Ganz gegen sein Naturell gab sich der Ex-Präsident, dem sich McCarthy wie Gaetz gleichermaßen verpflichtet fühlen, handzahm nach der historischen Abstimmung – und natürlich unschuldig: „Warum ist es so, dass die Republikaner sich immer untereinander bekämpfen, warum bekämpfen sie nicht die radikal linken Demokraten, die unser Land zerstören?”, fragte er leutselig auf seiner Online-Plattform Truth Social. Trump, der Favorit für die Präsidentschaftskandidatur 2024, darf sich durch das Tohuwabohu bestätigt fühlen in seiner fragwürdigen Selbstwahrnehmung: Nur einer kann Amerika jetzt noch retten – Donald Trump.
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