Kiew. Zehntausende Ukrainerinnen flüchten nach dem russischen Überfall ins Ausland. Nun kehren viele zurück – doch das Leben ist ein anderes.

Das „1900“ an der Oleysa-Honchara-Straße ist eines dieser typischen hippen Cafés, wie man sie häufig in Kiew findet. Geeister Espresso mit Limone auf der Karte, die Inneneinrichtung betont rau und lässig. Es ist das zweite Wohnzimmer von Tatiana Kommunar.

Fast eineinhalb Jahre war sie nicht mehr hier, weil sie vor dem Krieg geflohen ist, den ihre Landsleute über die Ukraine gebracht haben. Die 37-jährige Produzentin und Regisseurin hat einen russischen Pass. Vor einem Monat ist sie wieder in ihre neue Heimat zurückgekehrt, und sie ist nicht die einzige Rückkehrerin.

In der Nacht hat in der ukrainischen Hauptstadt wieder der Luftalarm gegellt. Erneut haben Explosionen viele Menschen in Kiew um den Schlaf gebracht. Es waren die Treffer der Flugabwehr, die die russischen Geschosse vom Himmel geholt haben.

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Am Tag danach brodelt das Leben. Der Berufsverkehr quält sich durch die Straßen. Die Restaurants und Geschäfte sind gut besucht. Am Rand des Maidan im Zentrum der Stadt liegen übereinandergestapelte rostige Panzersperren.

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Erinnerungen an die Zeit im Frühjahr des vergangenen Jahres, als die russischen Streitkräfte kurz vor Kiew standen und die Millionenmetropole wie eine Geisterstadt wirkte – weil so viele Menschen aus ihr geflohen waren. Jetzt sind viele Flüchtlinge zurückgekehrt. Trotz des Krieges, trotz der Luftangriffe.

Vor dem „1900“ sitzt Kommunar in der warmen Septembersonne. Sie ist in Moskau aufgewachsen. Im Jahr 2005 kam sie das erste Mal nach Kiew. Sie war beeindruckt, wie entspannt die Menschen in der ukrainischen Hauptstadt sind, wie frei das Leben ist. „Es war eine Schicksalsreise“, sagt sie.

Kommunar ließ sich den ukrainischen Dreizack tätowieren

In Russland nimmt Kommunar an Demonstrationen gegen Präsident Putin teil, sie wird immer wieder verhaftet. Als im Februar 2015 der Oppositionspolitiker Boris Nemzow in Moskau ermordet wird, zieht sie endgültig in die ukrainische Hauptstadt um.

Sie wird Teil der vibrierenden Kulturszene Kiews, lernt Ukrainisch, produziert Dokumentationen über den Konflikt im fernen Osten des Landes, wo sich prorussische Separatisten und die ukrainische Armee seit 2014 bekämpfen. Auf einen ihrer Finger hat sie sich einen Dreizack tätowieren lassen, das ukrainische Wappen.

Tatiana Kommunar (Regisseurin) kehrte als Russin in die Ukraine zurück.
Tatiana Kommunar (Regisseurin) kehrte als Russin in die Ukraine zurück. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Nach dem Beginn des russischen Überfalls floh Kommunar. Es sei keine bewusste Entscheidung gewesen, sagt sie, vielmehr eine Panikreaktion. „Ich hatte so große Angst, es war unglaublich stressig.“ Sie landete in Berlin, fand nach drei Monaten Arbeit, bewegte sich in der ukrainischen Exil-Community. Zur Ruhe kam Tatiana nicht. „Ich habe mich schuldig gefühlt, weil ich die Ukraine verlassen habe.“ Den ganzen Tag verfolgte sie die Nachrichten. „Ich hatte den Krieg in mir.“

Anfang August verlässt Tatiana Kommunar Deutschland wieder. „Ich hatte Angst, zurückzugehen“, gibt die 37-Jährige zu. „Aber ich habe mich gefragt, wo ich sein will, mit wem ich zusammen sein will, wer meine Helden und Vorbilder sind. Die Antwort war mir klar.“

Sie ist nicht sehr optimistisch, was den Verlauf des Krieges angeht, sagt sie. Manchmal spielt sie mit dem Gedanken, zum Militär zu gehen. Es sei seltsam, sagt sie. „Aber wenn die Sirenen heulen, dann fühle ich, dass ich zu Hause bin.“

Ivanska: „Hilfe zu akzeptieren, ist mir sehr schwer gefallen“

Bis Mitte August haben nach Angaben des Bundesinnenministeriums rund 254.000 Flüchtlinge aus der Ukraine das Bundesgebiet wieder verlassen. Auch aus anderen Ländern sind Menschen wieder in die Heimat zurückgekehrt. Tatiana Ivanska, 40, hat mit ihren beiden Söhnen ein Jahr und drei Monate in Warschau gelebt, ehe sie sich entschied, wieder zurückzukehren.

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Ivanska sitzt am Wohnzimmertisch ihres Hauses in Horenka am Stadtrand von Kiew. Zwölf Jahre haben sie und ihr Mann in dieses Haus investiert, die letzten Türen für das Obergeschoss sollten am 25. Februar des vergangenen Jahres geliefert werden. Doch einen Tag vorher wird die Fernsehmoderatorin von den Explosionen geweckt, mit denen die russische Invasion beginnt.

Der Strom in Horenka fällt aus. Mehrere Tage hintereinander kauert sich Ivanska mit ihren beiden Jungs immer wieder in eine Ecke des Hauses, wenn draußen die Detonationen krachen. Dem Jüngeren singt sie dann Schlaflieder vor.

Tatiana Ivanska (Fernsehmoderatorin) vor ihrem zerstörten
Tatiana Ivanska (Fernsehmoderatorin) vor ihrem zerstörten "Lieblings"-Café in der Nähe von Kiew. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

„Ich wollte das Haus nicht verlassen, aber die Einschläge sind immer nähergekommen“, erinnert sie sich. Als ihr Mann ihr sagt, er werde sie und die Kinder zum Bahnhof bringen, legt sie sich auf den Boden und weint. Zwei Tage später überquert Ivanska mit den beiden Söhnen die Grenze zu Polen, sie sind zu Fuß unterwegs, im Gepäck nur das Nötigste.

Ihr Mann meldet sich freiwillig zum Dienst bei den Territorialen Verteidigungskräften. „Die ersten zwei Monate in Polen waren sehr hart, ich habe kaum geschlafen. Ich hatte in der Ukraine als Ehrenamtliche anderen geholfen und plötzlich war ich selbst auf Hilfe angewiesen. Das zu akzeptieren ist mir sehr schwergefallen.“

Nach ihrer Rückkehr trennt sich der Mann von Tatiana Ivanska

Ivanska findet einen Job bei einem oppositionellen belarussischen Fernsehsender, die beiden Jungs gehen in die Schule. „Ich habe Geld verdient, den Kindern ging es gut, aber wir waren einfach nicht zu Hause.“ In der Heimat werden die Russen in der Zwischenzeit aus der Umgebung Kiews verdrängt.

Ivanskas Ehemann wird in Bachmut eingesetzt, wo über Monate die blutigste Schlacht des Krieges tobt. Im Frühjahr entscheidet sich Tatiana Ivanska, wieder in die Ukraine zurückzukehren.

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Am 2. Juni überquert sie mit ihren beiden Söhnen die Grenze. Auf einem Handyvideo von diesem Tag ist sie zu sehen, wie sie weint und lacht. Manchmal geht sie durch Horenka, nicht weit entfernt von ihrem Haus steht die Ruine des Cafés „Sommer“, in dem sie mit ihrem Mann oft gesessen hat.

Ein russisches Geschoss hat das Gebäude zerstört. Ivanskas Mann kommt nur noch einmal in der Woche samstags zu Besuch. Er hat sich von ihr getrennt. Seit Beginn des Krieges ist die Scheidungsrate in der Ukraine deutlich gestiegen.

Journalistin Anna mit ihrer Tochter Victoria am Maidan in Kiew.
Journalistin Anna mit ihrer Tochter Victoria am Maidan in Kiew. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Anna Reshetniak ist seit dem 22. Juli wieder mit ihrem Ehemann Oleh vereint. Als sie im Februar des vergangenen Jahres zusammen mit ihrer damals dreijährigen Tochter Iwana und ihrer Mutter nach Dänemark flieht, ist sie hochschwanger. Zwei Monate nach Kriegsbeginn kommt ihre Tochter Victoria zur Welt.

„Das war ein sehr schwieriger Moment. Ich habe in der Klinik all die glücklichen dänischen Familien gesehen, war aber allein.“ In den Monaten danach denkt sie immer wieder darüber nach, zurück in die Ukraine zu gehen. „Körperlich war ich in Dänemark, aber mein Herz war zu Hause.“

Auf der Reise nach Hause – doch die Kriegsangst fährt mit

Irgendwann kam der Punkt, an dem sie sich entscheiden musste. „Ich konnte erst nicht wegen Victoria arbeiten, wollte aber nicht mehr länger von Sozialleistungen abhängig sein. Ich hätte die Sprache lernen und mich assimilieren müssen. Wir hätten Wurzeln in Dänemark geschlagen.“

Stattdessen entschied sie sich, in die Heimat zurückzugehen, in der noch immer der Krieg tobt. „Der entscheidende Grund war, dass Kiew jetzt von unserer Luftabwehr geschützt wird“, sagt die 29-Jährige.

Als sie sich mit den Mädchen in den Zug von Polen nach Kiew setzte, begleitete sie dennoch die Furcht. Was, wenn eine Rakete den Zug trifft? Sie kommen aber heil in der Hauptstadt an.

Jetzt, sagt Reshetniak, sei sie glücklich, wieder zu Hause zu sein. „Ich hatte in Dänemark Depressionen und ich glaube, das geht auch vielen anderen Flüchtlingen so.“

Wieder in die Heimat zurückzureisen sei aber eine sehr individuelle Entscheidung. Manche Menschen, sagt die junge Frau, hätten einfach nichts mehr, wohin sie zurückkehren können. Andere stammen aus Städten nahe der Front. Nicht überall ist es so sicher wie in Kiew. Und auch dort sterben immer wieder Menschen bei den russischen Lufangriffen.

LandUkraine
KontinentEuropa
HauptstadtKiew
Fläche603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim)
Einwohnerca. 41 Millionen
StaatsoberhauptPräsident Wolodymyr Selenskyj
RegierungschefMinisterpräsident Denys Schmyhal
Unabhängigkeit24. August 1991 (von der Sowjetunion)
SpracheUkrainisch
WährungHrywnja

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt