Berlin. Macron sucht nach einer Strategie gegen die Gewalt im Land – und wirkt etwas ratlos. Indes schockiert ein Vorfall im südlichen Paris.
Am Samstagnachmittag passierte dann das, womit ohnehin alle gerechnet hatten: Der Präsident griff zum Telefon und ließ sich mit seinem Kollegen in Berlin verbinden. Emmanuel Macron und Frank-Walter Steinmeier kennen sich seit langem, sie schätzen und vertrauen einander.
Aber ein Staatsbesuch in Deutschland – jetzt, wo es in Frankreich Nacht für Nacht zu Unruhen, Plünderungen und Gewaltexzessen kommt? Bilder mit gut gelaunten Menschen aus Ludwigsburg, Berlin, Dresden und eine heitere Dampferfahrt auf der Spree – während im Großraum Paris und zahlreichen anderen Orten des Landes die Barrikaden brennen?
Besser nicht, da waren sich die beiden Präsidenten einig. Auf Bitten Macrons wird der für Anfang der Woche geplante Staatsbesuch auf unbestimmte Zeit verschoben. „Der Bundespräsident bedauert die Absage und hat vollstes Verständnis angesichts der Situation in unserem Nachbarland“, ließ Steinmeier am Samstag mitteilen.
Präsident Macron: Schon der Besuch des britischen Königs fand nicht statt
Jetzt heißt es für Macron also Krisenmanagement statt Händeschütteln und Staatsbankett. Die Situation ist ihm allerdings keineswegs unbekannt. Ende März, als die Proteste gegen seine Rentenreform im Land tobten, musste er bereits den Besuch des britischen Königs Charles III. absagen. Der flog dann direkt nach Deutschland und machte anders als vorgesehen vorher keinen Stopp in Frankreich. Am vergangenen Freitag wiederum verließ Macron vorzeitig den EU-Gipfel in Brüssel, um daheim in Paris eine Sitzung des Krisenkabinetts zu leiten.
Fast eine Woche ist es her, dass der 17-jährige Nahel M. in Nanterre bei Paris bei einer Verkehrskontrolle durch eine Polizeikugel ums Leben kam. Seitdem kommt das Land in den Nächten nicht mehr zur Ruhe. Landesweit gibt es Randale und Ausschreitungen, die vielfach von Jugendlichen aus Einwandererfamilien ausgehen. Betroffen sind besonders die abgehängten Vorstädte der großen Metropolen.
Macron und seine Regierung haben inzwischen ein Großaufgebot an Sicherheitskräften mobilisiert. In der Nacht zu Sonntag seien 45.000 Polizisten und Tausende Feuerwehrleute im Einsatz gewesen, schrieb Premierministerin Elisabeth Borne auf Twitter. „Im Angesicht der Gewalt zeigen sie einen vorbildlichen Mut“, ergänzte die Regierungschefin. Es gehe darum, die „republikanische Ordnung“ zu schützen und aufrecht zu erhalten.
Paris: Polizei räumt die Champs-Elysées mit Tränengas
Am Sonntagabend wollte Macron im Elysée-Palast mit Premierministerin Borne, Innenminister Gérald Darmanin sowie Justizminister Eric Dupond-Moretti zusammenkommen, um eine Bestandsaufnahme der aktuellen Situation zu machen. Unklar war zunächst, ob bei dem Treffen neue Beschlüsse gefasst werden sollten.
In den vergangenen Tagen hatten Macron und seine Regierung sogar erwogen, den nationalen Notstand im Land zu verhängen. Dadurch würden die Staatsorgane besondere Befugnisse erhalten. Die Regierung entschied sich aber zunächst dagegen – wohl auch deshalb, weil ein großer Teil der Randalierer minderjährig ist. Laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ifop im Auftrag der Zeitung „Le Figaro“ sind fast sieben von zehn Franzosen dafür, den Notstand zu verhängen.
Dem massiven Polizeiaufgebot in zahlreichen Städten des Landes ist es zu verdanken, dass zumindest die Nacht zu Sonntag vielerorts ruhiger verlief als die davor. Gleichwohl seien landesweit fast 720 Personen festgenommen worden, teilte das Innenministerium mit. 45 Polizisten und Gendarmen hätten bei Ausschreitungen Verletzungen davongetragen. 577 Autos und 74 Gebäude seien beschädigt worden.
In der Hauptstadt Paris waren auf der weltberühmten Flaniermeile Champs-Elysées Hunderte Polizisten im Einsatz, die den Boulevard schließlich mit Tränengas räumten. Aus Lyon und Nizza wurden abermals Plünderungen gemeldet. In Marseille war die Polizei mit gepanzerten Fahrzeugen, Hubschraubern und Spezialtruppen im Einsatz. Die Lage dort sei aber unter Kontrolle gewesen, hieß es.
Krawalle: Anschlag auf Privathaus eines Bürgermeisters
Ein besonders schlimmer Vorfall ereignete sich in der Stadt L’Haÿ-les-Roses südliche von Paris: Dort steuerten Unbekannte gezielt ein Auto auf das Wohnhaus des konservativen Bürgermeisters. Sie durchbrachen das Tor zum Grundstück, rammten das Wohngebäude, zündeten das Auto und den Privatwagen der Familie sowie Mülltonnen an.
Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass das Ziel war, das Wohnhaus in Brand zu setzen. Sie ermittelt wegen versuchten Mordes. Der Bürgermeister befand sich zum Tatzeitpunkt noch im Rathaus. Seine Frau und zwei kleine Kinder schliefen zu Hause und flohen durch den Garten. Dabei sollen sie von den Angreifern mit Feuerwerkskörpern beschossen worden sein. Nach Angaben des Bürgermeisters wurden seine Frau und ein Kind bei der Attacke verletzt.
Und auch jenseits der französischen Landesgrenzen kommt es inzwischen zu Ausschreitungen, die Welle der Gewalt schwappt ins benachbarte Ausland über: Im schweizerischen Lausanne am Genfer See nahm die Polizei sieben Menschen fest. Mehr als 100 Jugendliche hätten sich als Reaktion auf die Randale in Frankreich im Stadtzentrum von Lausanne versammelt, dabei sollen Geschäfte beschädigt worden sein.
Vor einigen Tagen hatte es bereits in der belgischen Hauptstadt Brüssel Ausschreitungen gegeben. Dabei brannten in der Innenstadt Autos aus. Die Polizei nahm zahlreiche Randalierer fest, die meisten von ihnen sind minderjährig. Frankreichs Präsident Macron steht jetzt vor der Aufgabe, die politische Initiative zurückzugewinnen. Bisher geht es vorrangig darum, die Unruhen zu ersticken und in den betroffenen Städten wieder Ruhe und Ordnung herzustellen.
Frankreich: Die Vorstädte bleiben ein Pulverfass
Nur: Auf Dauer ist eine massive Polizeipräsenz natürlich keine Antwort auf die Probleme und den Frust in den Vorstädten, die sich gerade entladen. So wie der amtierende Präsident hatten auch schon seine Vorgänger versprochen, die Banlieues sicherer zu machen und den Menschen dort mehr Perspektiven zu bieten. Einiges ist geschehen, es floss viel Geld. Gereicht hat das in der Summe natürlich nicht: Deklassierte Kommunen und Menschen holt man nicht von heute auf morgen zurück in die Mitte der Gesellschaft.
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Wie groß die Ratlosigkeit der politischen Klasse ist, zeigt auch eine Episode aus der vergangenen Woche: Nach der Sitzung seines Krisenkabinetts appellierte der Staatspräsident am Freitag nicht nur an die Betreiber der sozialen Medien, sensible Inhalte zu entfernen und den Behörden bei der Identifizierung von Straftätern zu helfen. Die Randalierer nutzen die Plattformen, um Aktionen zu planen und sich zu koordinieren.
Präsident Macron wandte sich auch eindringlich an die Eltern der jugendlichen Gewalttäter. Viele Festgenommene seien sehr jung, sagte er. „Ich fordere alle Mütter und Väter auf, ihrer Verantwortung gerecht zu werden! Die Jugendlichen wirken, als lebten sie auf der Straße aus, was sie in Video-Spielen in sich aufgesogen haben.“ Aus dem Munde des Staatschefs klang das schon fast verzweifelt.