Berlin. In Frankreichs Banlieues herrscht Chaos – wieder mal. Die Unruhen zeigen: An der Wut der Jugend hat sich nichts geändert. Kein Wunder.
Die entfesselte Wut ist grenzenlos – im wahrsten Sinne des Wortes. Frankreichs Vorstädte brennen. Und nach Belgien meldet nun auch die Schweiz Zusammenstöße der Polizei mit randalierenden Jugendlichen. In Lausanne wurden in der Nacht zu Sonntag Geschäfte verwüstet, in Brüssel Autos angezündet. Die Festgenommenen: meist minderjährig und oft mit Migrationshintergrund. Das passt in altbekannte Schemata.
Entsprechend reflexhaft klingt das politische Echo auf die Gewalteskalation: Natürlich sei die Wut über den Tod des 17-Jährigen Nahel M. verständlich, aber für die maßlose Zerstörung und die zügellose Gewalt gebe es keinerlei Rechtfertigung, heißt es. Härteres Durchgreifen, Tränengas, Ausgangssperren – womöglich sogar der Notstand: So sieht zumindest in Frankreich die Antwort auf das Chaos in den Straßen aus. Doch dass mehr Polizei auf lange Sicht zu weniger Gewalt führt, ist ein Irrglaube.
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In US-Metropolen lässt sich schon jetzt beobachten, wohin dieses Denken führt. Dort steht eine bis unter die Zähne hochgerüstete Polizei immer wieder unter dem Verdacht, bei schwarzen Jugendlichen besonders hart und teils brutal durchzugreifen. Der gewaltsame Tod eines Afroamerikaners durch Polizisten führte 2020 zu einer beispiellosen Protestwelle. Womöglich erlebt Frankreich gerade seinen George-Floyd-Moment. Dann wäre es geradezu fatal, wenn das Land darauf mit noch härteren Ordnungsmaßnahmen in den Banlieues reagieren würde. Denn in den Straßen dort fragt man sich schon seit längerem, wen die Polizei eigentlich schützen will: die Menschen inner- oder außerhalb der Vorstädte.
Die Wut ist nicht wahllos – sie hat einen klaren Adressaten
Für Kriminelle ist Nahel M. ohnehin nur ein Vorwand. Sie instrumentalisieren das Schicksal dieses Jungen und mischen sich unter eine aufgebrachte Jugend, um sich in einem günstigen Moment zu bereichern. Ihnen muss der Staat seine Wehrhaftigkeit zeigen. Seinen Blick sollte Frankreich aber nicht nur auf sie richten, sondern auf die Kinder – manche sind gerade mal 13 Jahre alt, die so wütend sind, dass sie alles kurz und klein schlagen wollen. Diese Wut richtet sich keineswegs wahllos gegen alles und jeden. Sie hat einen klaren Adressaten: die politische Klasse.
Viele Jugendliche in Frankreichs Vorstädten wissen, dass sie die Grenzen ihrer Banlieues nie verlassen werden – es sei denn, sie können Fußball spielen oder ganz passabel singen. Ihnen eine Perspektive zu geben, ist weder Präsident Emmanuel Macron gelungen noch seinen Vorgängern. Die Konsequenz ist, dass viele schon früh straffällig geworden sind, auch Nahel M. hatte keine blütenreine Weste, und hatte eigene Erfahrungen gemacht mit „Racial Profiling“ bei der Polizei – also den systematischen Personenkontrollen anhand der Hautfarbe. So setzt sich der Eindruck fest, dass es Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nur für die anderen gibt – für die „richtigen“ Franzosen.
Will Macron ein Zeichen setzen, sollte er in Vorstädte gehen
Natürlich kennen auch diese Jugendlichen Formen des Protests, die nicht in bürgerkriegsähnliche Unruhen münden – und von zehntausenden (auch jungen) Menschen etwa in Nanterre werden sie auch genutzt. Doch nicht diese Kundgebungen schafften es in die Abendnachrichten, sondern der marodierende Mob. Auch an dieser Stelle gerät etwas in gefährliche Schieflage: Denn eine protestierende Jugend, die nicht gehört wird, fühlt sich offenbar irgendwann gezwungen zu kämpfen – gegen Polizei und Staat, oder gegen alle, von denen sie sich verachtet sieht.
Dazu gehören zuallererst jene, die an Stelle von Nahel hätten sein können. Sie müssen endlich das Gefühl zurückerlangen, dass sie einen Wert haben in der Gesellschaft und nicht nur als wandelndes Sicherheitsrisiko gesehen werden. Wenn Macron kurzfristig ein Zeichen setzen will, sollte er es für diese Jugendlichen tun: In die Banlieues gehen, mit den Menschen dort in den Dialog treten, die Mutter des Jungen in den Elysée-Palast einladen. Langfristig führt an einem wesentlich dickeren Brett ohnehin kein Weg vorbei: der grundlegenden Reform der Integrationspolitik.
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