Berlin/Paris. Schwere Ausschreitungen wecken in Frankreich böse Erinnerungen. Die Politik steckt in einer Zwickmühle – und die Angst im Land wächst.
„Emotionen und Empörung dürfen nicht als Entschuldigung für solche Gewaltausbrüche herhalten“, erklärte Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron am Donnerstagmorgen kurz vor einer eilig anberaumten Krisensitzung der Regierung. Da lag in mehreren Pariser Vorstädten und in manchen Vierteln von Toulouse, Straßburg, Nantes, Lille oder Lyon noch der Rauch von abgefackelten Autos, Bussen, Mülltonnen oder gar Gebäuden wie einer Grundschule und einem Polizeikommissariat in der Luft.
Die schweren Ausschreitungen, zu denen es nach dem tödlichen Schuss eines Polizisten auf den 17-jährigen Nahel M. in der Nacht auf Mittwoch in dem Pariser Vorort Nanterre und drei Nachbargemeinden kam, flammten in der Nacht auf Donnerstag erneut auf und griffen auf rund zwei Dutzend weitere Städte über. 150 Festnahmen und erhebliche Sachschäden vermeldete das Innenministerium landesweit, nachdem sich die Lage wieder beruhigt hatte. Doch die Sorge ist groß, dass es in den nächsten Tagen oder Nächten zu weiteren Unruhen kommen könnte.
Krawalle in Frankreich: Bilder zeigen Ausmaß der Zerstörung
Nicht von ungefähr wecken die Vorfälle Erinnerungen an den „heißen“ Herbst 2005. Damals hatte der Tod zweier Jugendlicher, die in der Pariser Vorstadt Clichy-sous-Bois auf der Flucht vor der Polizei in ein Transformatorhäuschen geklettert waren, zu einem regelrechten Aufstand geführt. In den rund 300 ärmsten Gemeinden des Landes herrscht drei Wochen lang Chaos – und erst nach der Verhängung des Notstandes kehrte Ruhe ein.
Polizist erschießt 17-Jährigen: Macron spricht von „unverzeihbarem“ Geschehnis
Wohl aus diesem Grund hatte sich Macron sofort bemüht, die Wogen zu glätten. Unter dem Eindruck eines viral gegangenen Videos von der Verkehrskontrolle, die Nahel M. das Leben kostete, sprach der Präsident von einem „unverständlichen und unverzeihbaren“ Geschehnis. Tatsächlich vermitteln die Bilder den Eindruck, dass der Polizist, der gestern wegen vorsätzlicher Tötung angeklagt wurde, mutwillig und keineswegs in Notwehr auf den Minderjährigen schoss.
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Dennoch haben weder Macron noch Innenminister Gérald Darmanin oder Regierungschefin Elisabeth Borne, die ebenfalls ihre Betroffenheit äußerten, der Wut die Spitze nehmen können, die das Video auslöste. Wobei diese Wut in den sozialen Netzwerken wohl auch durch die Reaktionen von bekannten Schauspielern, Musikern und Sportlern befeuert wird, die in den Vorstädten aufwuchsen und nun ihrem Entsetzen oder ihrer Trauer Ausdruck verleihen. „Mein Frankreich tut mir weh!“, twitterte etwa Fußballstar Kilian Mbappé und fügte hinzu, dass er an die Familie „dieses kleinen Engels“ denke, der viel zu früh gegangen sei.
Proteste in Frankreich: Politologe ordnet Lage ein
Nahel M. war nicht vorbestraft, hatte aber bereits mehrfach Probleme mit der Polizei. Er landete erst vor wenigen Tagen auf der Wache, weil er wie am Dienstag ohne Führerschein Auto gefahren war und versucht hatte, sich den Ordnungshütern zu widersetzen.
Den Politologen und Meinungsforscher Jérôme Fourquet haben die Gewaltausbrüche nicht überrascht. Fourquet verweist auf die Statistiken. So wurden in Frankreich 2022 rund 13 Menschen bei Verkehrskontrollen erschossen und damit in zwölf Monaten so viele wie in den vier Jahren zwischen 2017 und 2021 insgesamt. Im gleichen Zeitraum freilich stieg auch die Zahl der Fälle, in denen sich Automobilisten einer Kontrolle zu widersetzen suchen, um beinahe 50 Prozent auf 27.800.
Besonders angespannt ist in diesem Zusammenhang die Situation in vielen Vorstädten, wo die Bewohner den Ordnungskräften oft misstrauisch gegenüberstehen.
Verkehrs- und Personenkontrollen, nicht selten als Schikane empfunden, sind dort besonders häufig und arten besonders oft aus. Auf der anderen Seite gilt, dass die Kontrollen ein probates Mittel im Kampf gegen Kleinkriminalität und Drogenhandel sind, die ihrerseits gerade in den Vorstädten blühen. Ein Teufelskreis, der schon vor der Revolte im Jahr 2005 existierte und der nach wie vor nicht durchbrochen wurde.