Velyka Novosilka. Unsere Reporter waren mit ukrainischen Soldaten in drei von den Besatzern befreiten Orten – und sie machten grausige Entdeckungen.
Der faulig-süße Geruch des Todes hängt in erschreckender Schwere über den zerstörten Häusern. Der Presseoffizier treibt zur Eile an. Hier ist es gefährlich, immer wieder gibt es Einschläge. Die Leiche eines russischen Soldaten liegt auf dem Rücken in einem Vorgarten. Es sieht aus, als schliefe er in dem satten Sommergrün. Er ist schon länger tot, die Verwesung ist fortgeschritten.
Ein Mann, gefallen fern der Heimat, in einem kleinen Dorf in der Ukraine, zurückgelassen von seinen Kameraden. Einer, den seine Familie in Russland nicht verabschieden kann. Die ukrainischen Soldaten, die das Dorf vor wenigen Tagen befreit haben, konnten ihn und die anderen noch nicht beerdigen. Die Gegenoffensive lässt ihnen keine Zeit.
Bei Velyka Novosilka im Südwesten der Oblast Donezk gehen am Ufer des Flüsschens Mokri Yaly einige kleine Siedlungen ineinander über. In Vremivka, Neskuchne und Storozheve lebten vor dem Beginn des russischen Überfalls einige Dutzend Familien. Dann kam der Krieg und zermalmte die Dörfer.
Einige Geländegewinne im Süden und im Osten der Ukraine
„Ukraine oder Tod. Willkommen in der Hölle“ steht auf der Wand einer Ruine in Vremivka, wo bis vor Kurzem die Front verlief. Im Norden waren die ukrainischen Streitkräfte, im Süden die Russen. Vor zwei Wochen überrannten die Ukrainer die russischen Stellungen nach tagelangen heftigen Gefechten. „Es war schwierig, aber wir haben die Aufgabe erfüllt“, sagt Grafit nüchtern.
Der junge Soldat steht vor den Überresten eines kleinen Gehöfts. Neben ihm blühen Rosen in leuchtendem Rot, Vögel zwitschern. Der Himmel ist bewölkt, es ist schwül. Immer wieder dröhnt der Donner der Geschütze, explodieren krachend Geschosse. Grafit wirkt angespannt, bereit, in Deckung zu gehen. „Die Stabilisierungsprozesse sind hier noch im Gange“, erklärt er. Grafit ist sein Rufname, er hat ihn sich selbst ausgesucht. „Denn ich gehe immer bis zum Ende, und ich bin stark.“
Nach knapp einem Monat melden die ukrainischen Streitkräfte bei ihrer Gegenoffensive einige Geländegewinne im Süden und im Osten. Bei Bachmut im Osten stoßen ukrainische Einheiten nördlich und südlich der völlig zerstörten Stadt vor, die seit Mai von den Russen kontrolliert wird. Sind sie weiter erfolgreich, müssten sich die Besatzer zurückziehen, um einer Einkesselung zu entgehen. Im Süden haben ukrainische Soldaten bei Cherson über den Fluss Dnepr übergesetzt und einen Brückenkopf errichtet.
Strategisches Ziel: Vorstoßen bis in die besetzten Städte Melitopol oder Mariupol
In der Oblast Saporischschja toben Gefechte in der Nähe des Dorfes Robotyne. Einige Kilometer östlich kämpfen Grafit und die anderen Männer der 35. Marinebrigade. Die Einnahme von Vremivka und der anderen Dörfer in der Region „fühlt sich wie ein kleiner Erfolg an“, sagt der Soldat. Bisher sind die ukrainischen Vorstöße an diesen Frontabschnitten vor allem Kampfaufklärungsmissionen. Die Ukrainer wollen wissen, wie stark die russischen Verteidigungsstellungen sind.
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„Das ist noch immer die erste Stufe der Gegenoffensive“, betont der ukrainische Militärexperte Oleksandr Musiienko. „Es geht jetzt darum, Möglichkeiten für die Zukunft zu eröffnen.“ Das strategische Ziel im Süden ist es, bis in die besetzten Städte Melitopol oder Mariupol vorzustoßen, um einen Keil zwischen die russischen Streitkräfte zu treiben. Es ist eine Mammutaufgabe.
Die Russen sind besser vorbereitet als bei den ukrainischen Gegenoffensiven im Herbst des vergangenen Jahres. Bei der strategisch wichtigen Kleinstadt Tokmak sollen sie einen Damm errichtet und den Fluss Tokmatsch aufgestaut haben, berichtet ein ukrainischer Militärblogger. Eine Sprengung des Staudamms könnte den ukrainischen Vormarsch erheblich verlangsamen.
Balu ist vor einem Monat Großvater geworden – wofür er jetzt kämpft
In Vremivka fallen einige Regentropfen. Es hat in den vergangenen Tagen in der Region öfter geregnet, auch das könnte die Gegenoffensive erschweren. „Das Wetter hat immer einen Einfluss auf bestimmte Dinge, auf die Versorgung zum Beispiel“, erklärt Grafit. „Aber das wird uns nicht aufhalten. In ein, zwei Tagen wird sich das Wetter stabilisieren, und dann – vorwärts in die Schlacht.“
Ähnlich optimistisch wie Grafit ist auch Balu, der seinen Rufnamen erhalten hat, weil er so groß und kräftig wie der Bär aus dem Dschungelbuch ist. Balu, 43, hat sich zu Beginn des russischen Überfalls freiwillig gemeldet. Er ist vor einem Monat Großvater geworden. „Ich kämpfe, damit mein Enkel eine Zukunft hat, und damit er nicht kämpfen muss.“
Im vergangenen Jahr hat Balu die Befreiung Chersons miterlebt. „Als wir die Stadt gesichert haben, kamen die Menschen zu uns, sie haben sich gefreut und uns Essen gegeben, das war schön.“ Bei der Befreiung von Vremivka und der anderen Dörfer in der Region hat niemand gejubelt. In den Ruinen wohnen keine Menschen mehr.
Balu glaubt, der Aufstand der Wagner-Söldner in Russland am vergangenen Wochenende könne Einfluss auf die Moral der russischen Streitkräfte und damit auf den Verlauf der Gegenoffensive haben: „Wir hoffen, dass es uns hilft, unser Territorium schneller zu befreien.“ Als seine Einheit vor rund zwei Wochen die gegnerischen Stellungen stürmt, rennen die Russen einfach weg. „Sie haben viel Ausrüstung zurückgelassen, Munition, Helme, schusssichere Westen.“
Land | Ukraine |
Kontinent | Europa |
Hauptstadt | Kiew |
Fläche | 603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim) |
Einwohner | ca. 41 Millionen |
Staatsoberhaupt | Präsident Wolodymyr Selenskyj |
Regierungschef | Ministerpräsident Denys Schmyhal |
Unabhängigkeit | 24. August 1991 (von der Sowjetunion) |
Sprache | Ukrainisch |
Währung | Hrywnja |
Russen flohen aus Storozheve und ließen die Toten zurück
Zurückgeblieben sind auch die Toten. Die Fahrt nach Storozheve führt durch Neskuchne. Auch hier stehen nur noch Ruinen in der wuchernden Vegetation. In der schwarzverschlammten Straße klaffen Krater, ausgebrannte rostrote Autowracks säumen den Weg. Überall liegen die Reste von Geschossen. Auf eine ausgebombte Fabrikhalle hat irgendwer eine ukrainische Fahne gepflanzt.
Kurz hinter Neskuchne liegt ein verwesender Körper in russischer Uniform am Straßenrand. In Storozheve liegt eine zweite Leiche. Der Mann soll Fahrer eines russischen Lastwagens voller Munition gewesen sein. Als die Ukrainer Storozheve erobern, erschießen sie den Soldaten, seine Kameraden fliehen und lassen seine Leiche zurück. Die beiden unbestatteten Toten sind nur zwei von vielen in den befreiten Dörfern, berichten die ukrainischen Soldaten. Wenn sie Zeit haben, verscharren sie die Leichen, die sie finden. Aber sie haben nicht viel Zeit.
Bis nach Mariupol sind es noch über 130 Kilometer
In Storozheve wird klar, was Grafit gemeint hat, als er davon sprach, die Stabilisierungsprozesse seien noch im Gange. Das Dorf liegt noch näher an der Front als Vremivka, bis zu den russischen Linien sind es knapp zwei Kilometer. Der Beschuss ist intensiver. Ein Hubschrauber fliegt mit flappenden Rotoren vorbei. Eine Drohne sirrt in hundert Metern Höhe, der Pilot scheint irgendetwas zu suchen. Plötzlich zischt es, dann ein gewaltiger Knall, ein Geschoss ist in der Nähe eingeschlagen. „Wir müssen hier weg“, befiehlt der Presseoffizier.
Die ukrainischen Streitkräfte haben bei ihrer Gegenoffensive an allen Frontabschnitten bislang etwa 300 Quadratkilometer befreien können, mehr als die russischen Streitkräfte bei ihrer Winteroffensive erobern konnten. Aber wenig im Vergleich zu dem, was noch vor ihnen liegt. In den vergangenen Wochen ist die 35. Marinebrigade hier in der Region etwa acht Kilometer vorangekommen. Bis nach Mariupol sind es über 130 Kilometer. Balu und Grafit werden noch viele Kämpfe überstehen müssen.
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