Moskau. Putin verspricht den Russen ein hartes Vorgehen gegen die Wagner-Putschisten – doch die Bestrafung bleibt aus. Viele Russen stört das.
Das Video haben Blogger ins Netz gestellt, es wird vielfach geteilt, ist fast ein Symbol geworden für diesen historischen Tag in Russland. Aufgenommen wurde es an einer Tankstelle am Stadtrand von Rostow am Don. Es zeigt den Moment, als die Kolonne der Wagner-Söldner in die südrussische Stadt einmarschiert. Panzer, Mannschaftstransporter, zivile Pkw. Ein Fahrzeug nach dem anderen. Am Straßenrand stehen Spezialpolizisten, reguläre Truppen, das Sturmgewehr gesenkt. Sie schauen einfach zu.
Viele Menschen in Russland fragen sich heute, am Tag nach dem 24-stündigen Chaos: Wo war eigentlich unsere Armee? Vereinzelt griffen Armeehubschrauber an, es soll auch Tote gegeben haben, doch weitgehend unbehelligt konnte Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin mit seinen Truppen in Richtung Moskau marschieren. Es sei ein „Marsch für Gerechtigkeit“, sagte der Söldner-Führer, „weil wir nicht wollen, dass das Land weiter mit Korruption, Betrug und Bürokratie lebt.“ In Wirklichkeit war es eine Art Militärputsch.
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Folgerichtig trat dann am Samstagmittag Russlands Präsident Wladimir Putin vor die Fernsehkamera. Er sprach von Verrat und einem „Dolchstoß in den Rücken“. Und weiter: „All jene, die sich bewusst auf den Weg des Verrats begeben haben, die einen bewaffneten Aufstand vorbereitet haben, die den Weg der Erpressung und der terroristischen Methoden eingeschlagen haben, werden unvermeidlich bestraft werden.“ Es gehe um die „Neutralisierung“ der Drahtzieher. Hart wolle er durchgreifen. „Wir werden siegen und stärker werden“, versprach Putin dem russischen Volk.
Russen fragen sich, wo das Land stärker geworden ist
Und dann, wenige Stunden später und einige Hundert Kilometer weiter in Richtung Moskau, die Wende. Prigoschin beendete seinen Vormarsch, zog die Truppen zurück. Kremlsprecher Dmitri Peskow erklärte am späten Abend, Prigoschin werde nach Belarus gehen und die Anklage gegen ihn werde fallen gelassen. Auch die Kämpfer seiner Wagner-Gruppe würden nicht strafrechtlich verfolgt. Peskow sagte, wichtiger als eine Bestrafung sei gewesen, eine Konfrontation und ein Blutvergießen zu vermeiden.
Den Rückzug gegen Straffreiheit vermittelt hatte der belarussische Staatschef Alexander Lukaschenko. Ein Video der russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti zeigte Prigoschins Abfahrt aus seinem zeitweiligen Hauptquartier in der Region Rostow im Geländewagen. Die Wagner-Kämpfer verließen Rostow am Don unter begeistertem Applaus und Rufen der Anwohner, berichtet das Online-Medium Meduza. Die Straßensperren rund um Moskau wurden aufgehoben, nur der von Moskaus Bürgermeister Sobjanin aus Sicherheitsgründen verfügte arbeitsfreie Tag am Montag bleibt bestehen. Alles wieder ganz normal?
Für viele Menschen in Russland ist es das nicht. Wo hat ihr Präsident gesiegt und wo sei Russland stärker geworden, fragen sie sich. Das hatte Putin schließlich versprochen. Was ist mit dem harten Durchgreifen, der Bestrafung der Putschisten? Und warum bedurfte es eines ausländischen Staatschefs als Vermittler, auch wenn Lukaschenko eine Art Vasall des Kremlchefs ist? Können Russen ihre Angelegenheiten nicht alleine regeln? Putins Ansehen hat gelitten, und dies ein knappes Jahr vor den Präsidentschaftswahlen.
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Putins Probleme begannen schon vor dem Putschversuch
Der Politologe Abbas Galljamow sieht vor allem die zunehmende Entfremdung von Putins Machtapparat zur Bevölkerung als Problem für Russlands Präsidenten. „Man kann kein superzentralisiertes System aufbauen und sich dann von der Außenwelt abschotten“, meint er. Galljamows Rat an Putin: „Treffen Sie nicht nur diejenigen, die Ihnen am Herzen liegen, sondern alle, die für das Funktionieren Ihrer politischen Maschine sorgen.“
Putins Probleme begannen bereits vor dem nunmehr gescheiterten Putschversuch: als Drohnen fast bis Moskau flogen, als pro-ukrainische Gruppierungen in die Grenzregion Belgorod einmarschierten, Dörfer besetzten. Seitdem nicht nur Belogorod unter Beschuss der ukrainischen Armee steht. Von oppositioneller Stimmung in Belgorod, Woronesch, Brjansk und anderen Grenzregionen spricht Galljamow. „Unter den Bewohnern wächst das Gefühl, dass Moskau sie ihrem Schicksal überlassen hat.“
In der russischen Bevölkerung wächst die Verunsicherung. Und es kommt zunehmend Kritik aus der eigentlich kremltreuen Elite des Landes. Margarita Simonjan, Chefredakteurin des Staatssenders RT, sprach jüngst von Waffenstillstand in der Ukraine, von „Referenden in den umstrittenen Gebieten“. Der frühere Chef der russischen Raumfahrtbehörde Roskosmos, Dmitri Rogosin, verlangte neue Mobilmachungswellen.
Russlands Eliten üben zunehmend Kritik an der Kreml-Linie
Der prominente Duma-Abgeordnete Konstantin Satulin von der Kreml-Partei Geeintes Russland kritisierte ein Versagen auf ganzer Linie. Kein einziges vom Kreml ausgegebenes Kriegsziel sei umgesetzt: weder eine Entmilitarisierung der Ukraine noch deren Neutralität noch ein besserer Schutz der Menschen im Donbass. „In welchem der Punkte haben wir ein Ergebnis erreicht? In keinem einzigen“, sagte Satulin.
Auch wenn sich jetzt, nach den Ereignissen von gestern, die Elite scheinbar um Putin schart: Ihre Kritik wird auch im Kreml wahrgenommen. Dass die russischen Behörden den Beginn einer offenen Rebellion zugelassen haben, dass dies Putins Status beeinträchtigen wird, sieht man mit Besorgnis, zitiert Meduza einen Informanten im Kreml. „Am ‘Vorabend’ des Präsidentschaftswahlkampfes 2024 gibt es mittelmäßige Signale, um ehrlich zu sein“, so der Insider. Die Wahlen sind im kommenden März.
Putin wird wohl wieder gewählt werden, doch er steht unter Druck, ein Nachfolger ist nicht in Sicht. Genau dies sei sein Problem, meint der Politologe Galljamow. „Je schwächer der Präsident sein wird, wenn er den Namen seines Nachfolgers bekannt gibt, desto wahrscheinlicher ist, dass sich einige Gruppen der Eliten weigern, diesem zu gehorchen.“ Chaos wäre die Folge, Machtkämpfe. Rund 40 Privatarmeen gibt es in Russland. Die größte ist die Wagner-Truppe von Jewgeni Prigoschin. Vielleicht sieht er dann seine Chance auf eine Rückkehr. Auch wenn er bislang jede politische Ambition dementiert.
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