Washington/Montgomery. Unter Berufung auf die Bibel hat ein US-Gericht ein nie dagewesenes Urteil gefällt. Kinderwunsch-Ärzte fürchten dramatische Folgen.
Zuletzt machte Alabama weltweit Schlagzeilen durch eine bis dahin noch nie angewandte Hinrichtungs-Methode. Diesmal setzt der notorisch arme und in gesellschaftspolitischen Fragen extrem konservative Bundesstaat im Süden der USA am Anfang des Lebens an. Mit einer beispiellosen Entscheidung des Obersten Gerichts in Montgomery steht nach Ansicht von Reproduktions-Medizinern die Kinderwunsch-Erfüllung durch künstliche Befruchtung vor dem Aus.
Mit sieben zu zwei Stimmen befanden die Top-Juristen, dass eingefrorene Embryos als vollständige Kinder anzusehen sind, deren Persönlichkeitsrechte – ohne Ausnahme – nicht verletzt werden dürften. Diese Betrachtung läuft der lange geübten Praxis bei der sogenannten In-Vitro-Fertilisation (IVF) zuwider.
Künstliche Befruchtung: Diese Methoden gibt es
Die Prozedur beginnt vereinfacht beschrieben damit, dass die Frau Sexualhormone gespritzt bekommt, um möglichst viele Eizellen zur Reifung anzuregen. Nach dem Eisprung werden die Eizellen am Eierstock abgesaugt und im Labor mit den Spermien des Mannes vereint. Entweder in einer Nährlösung (Petrischale), oder durch eine gezielte Injektion der Spermien (ICSI) in die Eizelle.
Bei dem Verfahren werden aus medizinischen Erwägungen in der Regel mehr Eizellen befruchtet, als später bei der empfangenden Frau eingesetzt werden. Verbleibende Embryonen werden für einen späteren Kinderwunsch tiefgefroren in Spezial-Behältern aufbewahrt. Alternativ werden sie zu Forschungszwecken genutzt oder entsorgt.
US-Gericht begründet Entscheidung mit Bibelstellen
Im Fall, der in Alabama vor dem höchsten Gericht landete, lagen besondere Umstände vor. Drei Paare hatten eine Klinik verklagt, nachdem ein Behälter mit ihren eingefrorenen Embryonen durch die Unachtsamkeit eines Patienten umgefallen war. Eine untere Gerichtsinstanz befand, dass die dabei zerstörten Embryonen nicht als Kinder zu betrachten seien. Die Klage wurde verworfen.
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Der Supreme Court berief sich jedoch auf ein 150 Jahre altes Gesetz zur fahrlässigen Tötung Minderjähriger. Darin sind alle Kinder, geborene wie ungeborene, gleichstellt. Tom Parker, der Vorsitzende des höchsten Gerichts, machte dabei unter Zuhilfenahme mehrerer Bibelstellen aus seinen religiösen Motiven kein Hehl: „Schon vor der Geburt haben alle menschlichen Wesen das Gesicht Gottes. Und ihr Leben kann nicht zerstört werden, ohne seine Herrlichkeit auszulöschen.”
Diese Folgen müssen Ärzte und Eltern nun fürchten
Die Entscheidung hatte sofortige Konsequenzen: Die Universitätsklinik in Birmingham, Alabama, stoppte in dieser Woche sämtliche IVF-Behandlungen, weil andernfalls „unsere Patienten und Ärzte für die Einhaltung medizinischer Standards juristisch verfolgt und mit Strafzahlungen belegt werden könnten”.
Reproduktions-Mediziner vor Ort rechnen damit, dass sich Paare, die auf IVF-Verfahren setzen, um Eltern zu werden, gezwungen sehen, ihre Embryonen in andere Bundesstaaten transportieren zu lassen. „Künstliche Befruchtung wird voraussichtlich entschieden teurer und schwieriger“, sagte ein Arzt in Montgomery gegenüber örtlichen Medien. Befürworter von In-Vitro-Befruchtungen nennen das Urteil „familienfeindlich“. Paaren, die auf natürlichem Weg keine Kinder bekommen können, werde das Leben „unverantwortlich schwer gemacht“.
Kritik am Urteil: Präsident Biden reagiert entsetzt
Das Weiße Haus reagierte entsetzt auf das Vorpreschen Alabamas und fürchtet Nachahmer in anderen republikanisch regierten Südstaaten, die bereits durch drakonische Strafen bei der Abtreibung aufgefallen sind. „Dieses Urteil wird exakt das Chaos auslösen, das wird erwartet haben, als das Oberste Gericht in Washington das bis dahin landesweit geltende Recht auf Abtreibung gekippt hat. Damit ist Politikern der Weg geebnet, zu bestimmen, wie die intimsten Entscheidungen einer Familie aussehen”, sagte Präsident Bidens Sprecherin Karine Jean-Pierre.
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Dagegen stellte sich die republikanische Präsidentschaftskandidatin Nikki Haley auf die Seite des Gerichts. „Für mich sind Embryonen Babys“, sagte Haley, die ihren Sohn durch IVF-Befruchtung bekommen hat, in einem Fernseh-Interview. Nach den zuletzt verfügbaren Zahlen der Gesundheitsbehörde CDC kamen 2021 in den USA 2021 rund 92 000 Kinder durch künstliche Befruchtung zur Welt. In Alabama wurden in diesem Zeitraum 1200 IVF-Behandlungen durchgeführt. In den USA gibt es in 49 von 50 Bundesstaaten (die Ausnahme ist Wyoming) rund 450 Kliniken für Reproduktionsmedizin.