Berlin. Der ESC 2024 stand unter schlechten Vorzeichen. Am Ende gelangen es für vier Stunden zumindest teilweise, diesen zu entfliehen.
Am Ende sind es Fingernägel, die die europäische Rundfunkanstalt EBU übersehen hat. Die portugiesische Sängerin Iolanda hatte sie sich für ihren Auftritt beim Eurovision Song Contest im Stil eines Kufiya-Tuchs designen lassen: eine Unterstützungsgeste für Palästinenser und Palästinenserinnen. Und beim ESC verboten.
Mehr als in den vergangenen Jahren hat die Europäische Rundfunkunion EBU im Vorfeld des ESC 2024 betont, dass politische Symbole und Gesten beim Musik-Wettbewerb nicht erlaubt seien. Nicht immer waren die Entscheidungen nachvollziehbar: So durfte Bambie Thug aus Irland beim Auftritt nicht die Worte „Frieden“ und „Waffenstillstand“ zeigen, obwohl die geplante Mittelalter-Schrift wahrscheinlich ohnehin nur die wenigsten hätten entziffern können. Stattdessen steht da am Ende eines okkulten Auftritts nun gut lesbar über dem Pentagramm auf dem Boden: „Crown the Witch.“ – „Krönt die Hexe“.
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Vor der Arena am Austragungsort in der schwedischen Stadt Malmö zeigte sich derweil, warum sich die EBU in diesem Jahr womöglich besonders besorgt zeigte: Barbara Schöneberger, die in der ARD vor und nach dem ESC 2024 durch den Abend führte, berichtete von Angriffen und pöbelnden Demonstrierenden. Im Fernsehen bekam man davon nichts mit.
Deutscher Kandidat Isaak steht beim ESC 2024 im Flammenmeer
Iolandas Nägel blieben dort der einzige mutmaßliche Regelverstoß – und selbst den entdecken nach dem Auftritt erst die Nutzer und Nutzerinnen auf X (ehemals Twitter). Der ESC 2024 verlief trotz großer Bedenken größtenteils friedlich, obwohl bei der israelischen Punktevergabe immer wieder Buh-Rufe laut wurden.
Dennoch war die Stimmung am Anfang des Abends noch recht verhalten. Als Isaak für Deutschland mit der Startnummer Drei und dem Lied „Always on the Run“ auftrat, wirkte er auf der vergleichsweise minimalistisch eingerichteten dunklen Bühne erst etwas unscheinbar. Schweden und die Ukraine hatten zuvor schließlich bereits schwere Geschütze in Sachen Lichtinstallationen aufgefahren.
Erst als Isaak die gesamte Kraft seiner Stimme offenbarte und in einem Meer aus Flammen auf der Bühne stand, taute das Publikum langsam auf. Über den Rest des Abends sah man es singen, tanzen und sogar weinen. Die politische Dimension des ESC 2024 schienen zumindest kurzzeitig vergessen. Andererseits: Auffällig viele der Interpreten und Interpretinnen beendeten ihre Auftritte in diesem Jahr mit Friedensbotschaften. Ein kleiner Akt der Rebellion?
ABBA treten beim ESC 2024 auf – mit einem Trick
Die angespannte Sicherheitslage beim ESC 2024 ließ sich nicht leugnen. Und doch erinnerte die EBU in den Vorbereitungen zeitweilig an ein verzweifeltes Familienoberhaupt, das nach einem Jahr voller Katastrophen krampfhaft an einem harmonischen Weihnachten festhält. Wenigstens ein paar Stunden heile Welt simulieren, während alle im Wohnzimmer zusammenkommen. Musik und Show als Entertainment, darauf schien man beim ESC 2024 mehr zu hoffen denn je.
Dafür griffen die Veranstaltenden tief in die Mottenkiste: Vom Kurzauftritt der Moderatorin des ersten ESC über das Comeback der Pop-Gruppe Alcazar bis hin zum merkwürdigen KI-Auftritt von ABBA durchzogen immer wieder Elemente aus der Vergangenheit die Mega-Show in Malmö.
Auch die ehemalige Gewinnerin Conchita Wurst durfte für etwas Nostalgie den Klassiker „Waterloo“ auf der ESC-Bühne vortragen. Es war ein denkwürdiger Moment: Mit Wurst, Carola und Charlotte Perelli sangen gleich drei ehemalige ESC-Gewinnerinnen den Mega-Hit von ABBA. „Die Geschichte wiederholt sich immer wieder“, heißt es in dem Song. An diesem Abend stecket darin nicht nur wegen der vielen Erinnerungen ziemlich viel Wahrheit.
ESC 2024: Wer überzeugt hat – und wer nicht
Denn während das Publikum vor jedem Auftritt Videoeinblendungen ehemaliger ESC-Acts des jeweiligen Landes sah, spielten auch die Darbietungen selbst mit Elementen aus der Vergangenheit. Wie immer gab es wild umherschwingende Scheinwerfer, bunte Feuerwerke, ein offensichtlich glückliches Publikum und ein Meer an zuckenden Flaggen in der tanzenden Menge. Doch auch manche der Acts dürften sich von andere Kunstschaffenden inspirieren lassen haben.
So schickte Zypern mit Silia Kapsis eine Pop-Prinzessin mit Bauchnabel-Piercing, deren Sound und Tanz an Jennifer Lopez erinnerten. Armenien ging mit Ladaniva und einer stressig-repetitiven Folk-Nummer an den Start, wie sie der ESC schon zahlreiche Male gesehen hat. Und mit Gåte trat für Norwegen eine stimmgewaltige Barfuß-Sängerin mit nordischen Tönen und langen Locken an, wie man sie auf einem Mittelalter-Fest erwarten würde.
Spannendere Elemente brachten dagegen Interpretinnen wie Angelina Mango (Italien), Baby Lasagna (Kroatien) oder Alyona Alyona & Jerry Heil (Ukraine), die allesamt sowohl eine eigene musikalische Perspektive als auch genreübergreifende Elemente in ihre Auftritte einbauten. Trotz aller Skandale im Vorfeld: Der ESC 2024 kann einen das Weltgeschehen zwar nicht vergessen lassen, aber zumindest für kurze Zeit unterhalten.
ESC 2024: Deutschland holt überraschenden Platz
Völlig zu Recht ging der Preis für die beste Unterhaltung und das beste Lied nach rund vierstündigen Show an die Schweiz, genauer gesagt an Nemo und „The Code“, eine Pop-Nummer mit Opern-Elementen. Nemo ist 24 Jahre alt, nicht-binär – also weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugehörig – und lebt in Berlin. „Berlin lässt einen sein, wie man ist. Es ist eine Stadt, die Spaß macht“, sagt Nemo dazu.
Den zweiten und dritten Platz machten Kroatien und die Ukrainerinnen – ein Resultat, wie es auch viele Wettanbieter vermutet hatten. Deutschland hat es zwar wieder nicht auf die oberen Plätze geschafft, aber immerhin den Fluch der Letztplatzierung gebrochen: Isaak landet beim ESC 2024 für Deutschland auf dem zwölften Platz. Manchmal wiederholt sich die Geschichte eben doch nicht.