Kiew. Bei der Frontbefestigung stoßen Soldaten auf zahlreiche spektakuläre Artefakte. Doch die Relikte der Geschichte sind in großer Gefahr.
Wenn die Soldaten in der Ukraine Schützengräben ausheben, um sich verteidigen zu können, stoßen sie nicht nur auf Steine und Schutt. Sie bergen auch so manchen antiken Schatz. Das von Russland angegriffene Land ist aus archäologischer Sicht eine echte Fundgrube.
Etwa die Hälfte der Ukraine – jene Seite, die westlich des Dnipro-Flusses liegt – gehörte zur sogenannten Tripolje-Kultur: Unter anderem dort hat sich zwischen dem 5. und 4. Jahrtausend v. Chr. ein großes Zentrum hoch entwickelter landwirtschaftlicher und pastoraler Kulturen in Osteuropa gebildet. Die Menschen dort kannten bereits Metalle – vor allem Kupfer und Gold. Nicht zuletzt deshalb überragte diese Gesellschaft wirtschaftlich und sozial den Rest des Kontinents.
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Altertumsforscher überrascht es nicht, dass der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine auch aus archäologischer Sicht Geschichte schreibt, denn die russische Armee war im Februar 2022 ursprünglich von Belarus aus, also westlich des Dnipro-Flusses, in Richtung der Hauptstadt Kiew einmarschiert. Genau in dieser Region entdeckten Soldaten einer Brigade der ukrainischen Territorialverteidigung eine bisher unbekannte Siedlung der Tripolje-Kultur.
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Ukraine: Wertvolle Funde drohen im Krieg zerstört zu werden
Solche Funde sind aktuell eher die Regel als eine Ausnahme: Beinahe jede Woche übergeben ukrainische Soldaten Gegenstände, die von archäologischer Bedeutung sein könnten. Fachleute vom Archäologieinstitut der ukrainischen Wissenschaftsakademie haben deshalb ein Handbuch mit Empfehlungen herausgegeben, wie sich ein Militärangehöriger verhalten sollte, wenn er bei Grabungen auf mögliche archäologische Schätze stößt. Auf diese Weise konnten bereits zahlreiche Artefakte gerettet werden: Sie befinden sich nun im Archäologischen Museum des Instituts.
Die Ukraine hat schon seit dem Donbass-Krieg 2014 Erfahrungen mit archäologischen Arbeiten in Gebieten, die von der Besatzung befreit wurden. Damals wurde eine größer angelegte Expidition im befreiten Teil der Region Luhansk durchgeführt. Die Archäologen untersuchten an der Grenze zu Russland Grabhügelnekropolen und stießen auf eine Reihe von Artefakten aus der Bronzezeit.
Die Kampfhandlungen haben Dinge zutage gefördert, die in Friedenszeiten unbemerkt geblieben wären. Doch das ist aus archäologischer Perspektive alles andere als positiv. Denn die historisch bedeutsamen Grabhügel wurden im Krieg oft als Beobachterposten benutzt und dabei stark beschädigt. Wer kann Rücksicht auf die Geschichte nehmen, wenn er um seine Existenz kämpft? Auch aus diesem Grund versuchen die Experten inzwischen, ihr Wissen an die Soldaten weiterzugeben.
Allein 100 neue Artefakte nach Befreiung der Vororte
Allein im Jahr 2022 wurden nach der Befreiung der Vorstädte von Kiew mehr als 100 neue Artefakte gefunden. Rund ein Drittel davon war jedoch schwer beschädigt. Und es gibt noch ein anderes Problem. „Leider haben wir zu vielen Gebieten keinen Zugang“, sagt Alla Bujskych, Vize-Direktorin des Archäologieinstituts der Wissenschaftsakademie. „Einerheits, weil die Gelände noch nicht entmint wurden. Andererseits spielt die Nähe zu Belarus eine Rolle. Die Grenzregion muss gut geschützt werden.“
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Trotzdem fallen bei Arbeiten im Bezirk Kiew auch spannende Parallelen zur blutigen Gegenwart auf. Die Ortschaft Bilohorodka – eine im Mittelalter befestigte Stadt westlich von Kiew, die vom Fürsten Wolodymyr gegründet worden war – liegt heute weniger als zwei Kilometer von der Frontlinie entfernt. Dort wurden 2022 diverse Verteidigungsanlagen auf Höhe der mittelalterlichen Siedlungen gebaut, die schon in der Antike als Schutzlinie für die Soldaten dienten.
Verteidigungslinien wurden auch in der antiken Siedlung Tumasch sowie im Dorf Chodossiwka westlich von Kiew gefunden – dort wurde nicht nur eine Siedlung aus der frühen Eisenzeit entdeckt, sondern auch zerstörte Bestattungsorte aus dem Mittelalter. Diese Nekropole war vor dem russischen Angriffskrieg unbekannt.
Zu einer großen Tragödie für die ukrainische Archäologie wurde die Zerstörung des Kachowka-Staudamms im Juni 2023, in dessen Umgebung zuvor fast 100 Artefakte bekannt waren. Verloren gegangen sind wohl auch Artefakte aus Zeiten der Saporoger Sitsch – eines Quasistaats ukrainischer Kosaken, der zwischen Mitte des 16. Jahrhunderts und Ende des 18. Jahrhunderts in unterschiedlichen Formen existierte. Der Erhalt des kulturellen und archäologischen Erbes der Ukraine sei deshalb eine „generelle Problematik “, warnt Expertin Alla Bujskych.
Armee erwägt Gründung einer archäologischen Einheit
Sämtliche beschädigten archäologischen Artefakte und Stätten zu identifizieren, wird auch nach dem Ende der aktiven Kampfhandlungen in der Ukraine Jahrzehnte dauern. Doch auch für die Zeit bis zum Ende des Krieges gibt es Ideen: etwa die Gründung einer speziellen archäologischen Einheit bei den ukrainischen Streitkräften.
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Solche Einheiten existieren bereits jetzt in vielen Nato-Armeen – und sie haben sich bei den Kriegen in Afghanistan und dem Irak als überaus hilfreich erwiesen. Schon heute dienen 15 Mitarbeiter des Archäologieinstituts der Wissenschaftsakademie bei der ukrainischer Armee. Es gibt auch Archäologen aus anderen Institutionen, die bei den Streitkräften dienen. Sie könnten den Kern einer solchen Einheit bilden.
Aus Sicht der Archäologen wäre dies auch dringend notwendig, weil Militärs Zugang zu Gebieten erhalten, zu denen Zivilisten aktuell keinen Zutritt haben. Für den Erhalt der Geschichte wäre das von unschätzbarem Wert.
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