San Francisco. Viele Jahrzehnte war man mit den Vorstellungen einer „natürlichen Selektion“ und „Survival of the Fittest“ auf dem Holzweg.
Die Gesetze der Evolution werden gerne verkürzt auf die simple Formel „Survival of the Fittest“. Bezeichnenderweise war es nicht der Begründer der Evolutionstheorie, Charles Darwin, der den Satz vom „Überleben des Stärkeren“ in den Raum gestellt hat, sondern der viktorianische Philosoph Herbert Spencer, der die Ideen Darwins auf die menschliche Gesellschaft übertragen hat. Und da beginnt wahrscheinlich auch der große Denkfehler.
In seinem neuen Buch „Von egoistischen Genen zu sozialen Lebewesen“ schreibt der Evolutionsbiologe Jonathan Silvertown, dass das Verständnis der natürlichen Auslese zu häufig zu kurz greift – weil es das Modell des dauerhaften Konfliktes um das genetische Überleben annimmt. Was immer wieder zu kurz komme, das sei die Tatsache, dass in vielen Fällen Kooperation der Schlüssel zum Erfolg war, von den Raubtieren bis hin zu Bakterien.
Etliche Beispiele: Kooperation führt zu evolutionärem Erfolg
Um das zu verdeutlichen, führt Silvertown etliche Beispiele an: In den Wurzeln von Hülsenfrüchten existieren Bakterien, die Stickstoff aus der Luft in eine lösliche Form umwandeln, die die Pflanzen nutzen können. Es gibt Käferarten, die zusammenarbeiten, um Tierkadaver zu vergraben. Ein einzelner würde das kaum bewältigen – zusammen schaffen sie es und profitieren gemeinsam. Bakterien kommunizieren durch chemische Reaktionen, um andere Bakterienstämme anzugreifen. Solcherart Kommunikation und Zusammenarbeit lässt sich in endlosen Varianten feststellen – was die These nahelegt, dass eben nicht Stärke das wesentliche Element evolutionärer Grundsätze ist.
Modelle, die nicht mehr zeitgemäß sind
Genau genommen ist der sozial-darwinistische Ansatz eigentlich eine billige Verkürzung des so erfolgreichen Entwicklungsmodells, und Silvertown widerlegt die Vorstellung, dass Kooperation grundsätzlich im Widerspruch zum Wettbewerb steht. Die Theorie, dass „Stärke“ und Konflikt die wesentlichen Elemente der Evolution seien, ist ein Konstrukt aus der Vergangenheit, das inzwischen als überholt gilt. Silvertown führt als Beispiel für die falsche generelle Einordnung solcher Formen des Zusammenlebens als Parasitentum an. Nach dieser Sicht ist stets einer der Akteure dominierend, der zweite wird „benutzt“.
Inzwischen geht die Evolutionsforschung davon aus, dass etliche dieser Kooperationen als erfolgreiche Zusammenarbeit interpretiert werden müssen. Auch im menschlichen Körper existieren Myriaden von Bakterien – und wir sind aufeinander angewiesen. Wer ist Parasit, wer profitiert? Wobei solche Kooperation nicht an sich der Zweck sind, sie wurden und werden eingegangen, weil die Beteiligten – jeder für sich – egoistische Ziele damit verfolgen: nämlich die bestmögliche Verbreitung der Gene.
Die Evolution als blinder Uhrmacher
Silvertowns Thesen passen gut zu den vielen grundlegenden Weiterentwicklungen, die die Evolutionstheorie in den vergangenen 30 Jahren gemacht hat. Hervorzuheben ist an dieser Stelle vielleicht Richard Dawkins, der für die Evolution die Metapher des blinden Uhrmachers geschaffen hat. Viele Menschen neigen dazu, in den Gesetzen der Natur, wo viele Rädchen ineinandergreifen, einen Plan sehen zu wollen. Dawkins setzt dem entgegen: Evolution ist planlos und zufällig – aber immer gnadenlos effizient. Ein Daseinskonzept, das besser als andere mit Lebensbedingungen umgehen kann, das setzt sich letztlich genetisch durch.
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Auch die Entwicklung der menschlichen Gefühle folgt den Gesetzen der Evolution
Der Essener Wissenschaftler und Neuropsychologe Rolf Diehl hat jüngst in seinem Buch „Mitten in Eden“ aufgeschlüsselt, welche große Rolle die Evolution der Gefühle bei der Entwicklung des Menschen gespielt hat. Diehl geht davon aus: Unsere heute bestehende Gefühlswelt ist entstanden aus Trieben und Instinkten, die auch der Tierwelt eigen sind – die sich als Antwort auf die Herausforderungen der Umwelt jedoch ausdifferenziert und zum Erfolg geführt haben. Es geht am Ende nicht um Konflikt und Selektion, was ja voraussetzt, dass jemand die Wahl trifft.
Es geht schlicht um erfolgreiche Lebensformen. Auch für den Menschen war der Schlüssel nicht Stärke, sondern die Fähigkeit, komplexe Gemeinschaften zu bilden. Liebe, Güte, Hass, Moral, Ehrgeiz – ihr Entstehen ist der Tatsache geschuldet, dass der Mensch nur in der Gruppe überleben konnte. Und dabei brachte die Weiterentwicklung der Gefühlswelt einen entscheidenden Vorteil – und nicht die Stärke in Form von Muskelkraft.
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