Bad Berleburg. Erneut eine Festnahme bei einem Behördentermin in Siegen: Familienvater soll nach Armenien abgeschoben werden. Das erinnert an den „Fall Muradi“.
Es gibt einen zweiten Fall „Muradi“ im Kreis Siegen-Wittgenstein. Nach Informationen dieser Zeitung soll der aus Armenien stammende Bad Berleburger Robert Muradyan am Donnerstagmorgen bei einem Termin in der Ausländerbehörde festgenommen worden sein. Ein Handy-Foto macht die verzweifelte Situation des Mannes mehr als deutlich. Mit dem Handy hat er seine gefesselten Füße fotografiert und dieses Bild an seinen Arbeitgeber Andreas Benkendorf in Bad Berleburg geschickt.
Lesen Sie auch:
- So lief der Fall Muradi im Februar und März ab
- Jubel in Aue-Wingeshausen: Vorerst keine Abschiebung im Fall Muradi
- Das Trauma der Abschiebehaft wiegt schwer
Dem Familienvater droht die Abschiebung. Auch seine Frau Marine Boghean und die beiden Töchter Viktoria und Arpi sollen Deutschland verlassen, das berichtet Hotelier Andreas Benkendorf im Gespräch mit unserer Redaktion. „Es herrscht pure Verzweiflung“, sagt Benkendorf, dem das Schicksal der Familie sehr nahe geht.
Hotelier ist außer sich
Der Betreiber des Hotels „Alte Schule“ ist außer sich. Er kann das Vorgehen der Ausländerbehörde nicht verstehen. „Die Familie ist bei uns total integriert. Marine spricht fast fließend Deutsch und Robert arbeitet bei uns im Hotel. Alle nennen ihn Magic Robert, weil er so fleißig ist.“ Der Hotelier ist am Telefon kaum zu bremsen, berichtet davon, dass die Kinder in der Schule und im Kindergarten sind und nach gar nicht wissen, dass der Vater dem Haftrichter vorgeführt werden soll.
Nicht nur beim Namen Muradyan und der Festnahme im Ausländeramt gibt es Parallelen zum Fall der allerdings aus Aserbaidschan stammenden Flüchtlingsfamilie Muradi aus Aue-Wingeshausen. Beide Familien sind in Deutschland nur geduldet.
Ein zweiter „Fall Muradi“
Am 14. Februar war Sevine Muradi, die Mutter dreier Kinder, in Siegen kurzerhand festgesetzt und in Abschiebehaft genommen worden. Erst auf öffentlichen und politischen Druck und mit Unterstützern aus Bad Berleburg wurde die Abschiebung vorerst verhindert. Das ging nur über den Petitionsausschuss des NRW-Landtages. Ergebnis: Die Abschiebung ist erst einmal ausgesetzt und die Härtefallkommission wird sich erneut mit dem Fall Muradi befassen.
Auf genau so eine Entscheidung aus Düsseldorf hoffen nun auch die Familie von Robert Muradyan und sein Arbeitgeber Andreas Benkendorf. „Wir brauchen solche fleißigen Leute wie Robert. Es ist sehr schwierig, Personal für die Gastronomie zu finden. Wir haben schon 10.000 Euro investiert und einen Agentur eingeschaltet“, erklärt Benkendorf. Als Hotelier hatte er auch eine Job-Perspektive für Marine Boghean. Die Lebensgefährtin von Robert Muradyan sollte in den nächsten Wochen als Bäckerin im Hotel anfangen. Auch das eine Parallele zum Fall Muradi: Sie will eine Ausbildung im Friseurhandwerk machen und er Altenpfleger lernen, um auf eigenen Füßen zu stehen.
Medizinische Gründe für Leben in Deutschland
Anders als die Muradis sind Muradyan und Boghean aber aus medizinischen Gründen nach Deutschland gekommen, berichtet Andreas Benkendorf. Die Mutter zweier Töchter hatte in ihrer Kindheit einen schweren Unfall. Dabei habe sie einen Teil eines Fußes verloren und Kopfverletzungen erlitten. Die Folge seien dauerhafte Schmerzen. Aus Armenien zog die Familie zunächst nach Russland. Dort aber wurde das Leiden offenbar nicht besser. Deshalb entschieden sich die unverheirateten Eltern, nach Deutschland zu gehen, weil man sich von der Medizin hier mehr erhoffte. „Und so war es auch. Die Therapie hat angeschlagen“, berichtet Andreas Benkendorf. Deshalb will er Marine Boghean ja auch fest einstellen.
Seit dem Donnerstagmorgen und dem Termin um 9 Uhr im Ausländeramt aber ist alles anders. „Es herrscht pure Verzweiflung“, sagt Benkendorf noch einmal.
Das sagt die Politik
Kreis: Es gab eine Chance auf Legalisierung
Die Kreisverwaltung Siegen-Wittgenstein äußert sich auf Anfrage der Redaktion in einer schriftlichen Stellungnahme zum „Fall Muradyan“ und weist darauf hin, dass sie aus Datenschutzgründen lediglich einige Eckpunkte des Verfahrens benennen kann: „Die Familie reiste im August 2019 zu einer medizinischen Behandlung in die Bundesrepublik Deutschland ein. Ein in Folge gestellter Asylantrag wurde vom BAMF am 23. März 2021 als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Die Familie ist vollziehbar ausreisepflichtig, da der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit Beschluss des Verwaltungsgerichtes Arnsberg vom 4. Mai 2021 abgelehnt wurde. Die Abschiebungsandrohung ist seit dem 19. Mai 2021 vollziehbar. Am 3. August 2021 wurde ein Härtefallantrag gestellt. Am 21. Januar 2022 ist bei der Ausländerbehörde des Kreises ein Schreiben (Entscheidung) der Härtefallkommission eingegangen: Die Kommission sah sich nicht in der Lage, zu dem vorgetragenen Sachverhalt ein Ersuchen abzugeben. Es wurde also keine besondere Härte festgestellt. Dabei wurde auch die Erkrankung der Ehefrau berücksichtigt.Ausreisen und Visum beantragenGrundsätzlich birgt die Einstellung eines Ausländers ohne gesicherten Aufenthalt ein Risiko für den Arbeitgeber. Es begründet aber keinen Härtefall für die Familie. Da die Familie der Aufforderung, die Bundesrepublik freiwillig zu verlassen, nicht nachgekommen ist, wurden Maßnahmen zur Abschiebung eingeleitet. Aus Sicht der Ausländerbehörde des Kreises gab es in der Vergangenheit die Möglichkeit, den Aufenthalt von Herrn Muradyan zu legalisieren. Seine Rechtsanwältin teilte dem Kreis – nachdem das Asylverfahren abgelehnt wurde – mit: „Herr Muradyan hat einen unbefristeten Arbeitsvertrag und beabsichtigt die Ausreise nach Armenien, die dortige Beantragung des Visums zum Zwecke der Arbeit und die Einreise, um in Deutschland eine Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Arbeit zu erhalten. Herr Muradyan ist bereits dabei, sich um einen Termin bei der Botschaft zu kümmern.“ Leider ist dies so nicht umgesetzt worden, denn damit hätte er in der Tat einen legalen Aufenthaltsstatus in Deutschland erhalten können.Das sagt der LandratLandrat Andreas Müller betont, dass die aktuellen Geschehnisse einmal mehr deutlich machen, dass Deutschland dringend ein modernes Asyl- und Zuwanderungsrecht braucht: Insbesondere muss für gut integrierte Personen ein Spurwechsel aus dem Asylverfahren in die Arbeitsmigration ermöglicht werden, ohne dass zunächst wieder eine Ausreise ins Heimatland erfolgen muss, wie es die gegenwärtige Rechtslage erfordert. Solange solch eine Gesetzesänderung aber nicht erfolgt, sind Ausländerbehörden verpflichtet, die aktuell geltenden Gesetze anzuwenden.“
Die heimnische SPD-Bundestagsabgeordnete Luiza Licina-Bode ist zwar nicht zuständig, weil die Abschiebungen in das Länderrecht fallen. Aber sie hat eine klare Meinung, die auf dem Gleichbehandlungsgrundsatz fußt: „Es scheint der gleiche Fall wie bei der Familie Muradi zu sein. Hier sollte man Kontakt zum Innenministerium NRW und dem NRW-Petitionsausschuss aufnehmen und fragen, ob diesen Fälle nicht gleich behandelt werden können.“
Die Rechtsanwältin, die früher für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gearbeitet hat, weiß, wie kompliziert die Rechtslage gerade bei Geduldeten ist. Hier aber habe Bundesinnenministerin Nancy Faser eine Reform angekündigt, um den Menschen, die seit Jahren integriert in Deutschland leben, aber von Ausweisung bedroht sind, eine klare Perspektive zu geben.
Ähnlich äußern sich auch die amtierenden heimischen Landtagsabgeordneten. „Es ist wirklich wichtig, dass wir ein modernes Asyl- und Zuwanderungsrecht bekommen. Ich finde es bitter, dass jetzt wieder so ein Fall geschieht, dass man Menschen, die arbeiten wollen, sich integriert haben und auch gebraucht werden, nach Hause geschickt werden sollen“, sagt Anke Fuchs Dreisbach (CDU). Und Falk Heinrichs (SPD) nimmt die Bundespolitik beim Wort: „Wir brauchen den Spurwechsel, damit auch abgelehnte Asylbewerber die Chance haben, einen geregelten Aufenthaltsstatus zu bekommen.“