Siegen. „Leute, mit denen man sich besser nicht anlegt“: Siegenerin soll ihre Ex-Schwiegermutter fast tot geschlagen haben. War es Gier? Geldnot? Angst vor Gangstern?

Die Familie kann sich das nicht erklären: So eine brutale Tat, ein versuchter Mord an der ehemaligen Schwiegermutter? Das passt nicht zur Angeklagten, sind sich die Zeugen am Dienstag, 14. Januar, im Landgericht Siegen einig. An diesem Prozesstermin blitzen in manchen Aussagen zumindest Ansätze von Erklärungen auf, warum die 59-Jährige im Juni 2024 mit einem schweren Aschenbecher, einem Bügeleisen, einem Locher, auf die 83-Jährige eingeschlagen und sie in ihrer Wohnung gefesselt zum Sterben zurückgelassen haben soll.

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Ein Motiv könnte Geld sein. Dass die Seniorin in ihrer Wohnung zumindest größere Summen hortete, sei in der Familie ein offenes Geheimnis gewesen, zumal die Frau gleichzeitig überaus sparsam sei. Sie repariere sogar Schnürsenkel, um sich die Summe zu sparen, sagt ihre Tochter im Zeugenstand. Dass da angeblich zehntausende, womöglich sogar hunderttausende Euro - ein Bekannter nennt sogar eine Million - in einem weißen Mülleimer versteckt waren, den aber niemand je zu Gesicht bekam, finden alle, die die alte Frau kennen, ziemlich wahrscheinlich. Gleichwohl habe sie durchaus auch mal großzügige Geschenke gemacht. Trotz ihres hohen Alters und den schweren gesundheitlichen Folgen durch den Angriff lebe sie nach wie vor alleine, gehe immer noch putzen, um Geld zu verdienen.

Die Familie: Unvorstellbar, dass Siegenerin zu so brutaler Tat fähig ist

Warum sollte die Angeklagte die Mutter ihres Ex-Mannes so brutal angegriffen haben? Nicht nur laut Aktenlage war die Frau nie gewalttätig, auch ihre Töchter und die Familie können sich aus der Vergangenheit an nichts erinnern, was auch nur annähernd zu einer solchen Tat gepasst hätte. „Sie war immer so lieb zu mir und den Kindern“, sagt etwa die Nichte ihres Ex-Mannes unter Tränen. „Das passt für mich gar nicht zusammen.“ Nahezu wortgleich berichten es andere Angehörige.

„Sie war immer so lieb zu mir und den Kindern.“

Zeugin

Klar scheint hingegen: Auch zu den eigenen Kindern hatte die Beschuldigte wohl ein kompliziertes, distanziertes Verhältnis. Teils von Beginn an, wie bei ihrer älteren Tochter aus einer früheren Beziehung, die bei den Großeltern aufwuchs, nie ein normales Verhältnis zu ihrer Mutter gehabt habe: Sie hätten zwischenzeitlich zehn Jahre gar keinen Kontakt gehabt, sagt die Zeugin. Sie sei mit dem Lebenswandel von Mutter und Stiefvater nicht mehr einverstanden gewesen: „Zuhause sitzen und nichts tun, obwohl es anders möglich wäre“, das habe nicht zu ihr und ihrer Familie gepasst.

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Die Ex-Schwägerin erzählt, dass sie auch nach der Trennung von ihrem Bruder öfter mit der Angeklagten telefonierte - bis diese unverständlicherweise den Kontakt abgebrochen habe und ihre Telefonnummer blockierte. Sie seien schockiert, wie vor den Kopf geschlagen, fassungslos gewesen, als sie von den Vorwürfen hörten, heißt es aus dem Umfeld der Angeklagten, die den Aussagen ihrer Angehörigen ohne sichtbare Regung folgt.

Die Erkrankung: Hatte Siegenerin Angst, verrückt zu werden?

Eine Erklärung könnte eine bislang nicht näher benannte neurologische Erkrankung sein. Die ältere Tochter der Angeklagten berichtet, dass ihre Mutter nach der Scheidung nochmal ein knappes Jahr mit ihrem Vater liiert und in dieser Zeit in ärztlicher Behandlung gewesen sei. „Irgendwas mit dem Kopf“ - genaueres habe sie sich nie entlocken lassen. Da sei etwas, das da nicht sein solle. Laut ihrer Halbschwester habe die Mutter „öfter mal Aussetzer“ gehabt - „ich würde es schusselig nennen“. Aber es würde nicht besser, sondern schlimmer werden, habe sie gesagt. Allgemein schlechtes Befinden, Vergesslichkeit, Gleichgewichtsprobleme seien Symptome gewesen, aber gejammert habe die Mutter nicht. Nur Andeutungen gemacht: Sie wolle so nicht werden oder nicht verrückt werden, habe sie mal geäußert.

„Es ist genauso passiert wie es da steht.“

Angeklagte
laut Ex-Freund ihrer Tochter

Die Familie scheint am Tattag jedenfalls alarmiert gewesen zu sein: Nur einen Nachmittag lang war sie nicht erreichbar und nicht auffindbar, hatte sich vehement geweigert mitzuteilen, wo sie hinwollte. Die Töchter wussten: die Mutter war irgendwie krank, trauten ihr offenbar nicht mehr zu, auch nur einen Nachmittag allein klarzukommen und machten sich umgehend auf die Suche.

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Im Nachhinein, nachdem sie in anderer Kleidung und in einer von Geldsorgen geprägten Lebenssituation mit etwa 2500 Euro wieder auftauchte, sei sie allen Fragen, wo sie gewesen war, ausgewichen. Auch als die Kriminalpolizei mit einem Durchsuchungsbeschluss anrückte. Immer wieder hätten sie nachgefragt: „Eins hat das andere gegeben“, habe sie irgendwann geantwortet, so die ältere Tochter. Laut Ex-Freund der jüngeren Tochter habe die Angeklagte der jungen Frau, nach ein paar Tagen mit dem Durchsuchungsbefehl konfrontiert, gestanden: „Es ist genauso passiert wie es da steht.“ Die fremde Kleidung habe sie angeblich in den Fluss geworfen. Die Tochter habe sie gedrängt, sich der Polizei zu stellen, was sie am nächsten Tag auch tat. Auch der junge Mann kann sich das Geschehen nicht erklären: „Sie war liebevoll und gutherzig. Immer.“

Die Geldsorgen: Hat sich Siegenerin Geld von gefährlichen Leuten geliehen?

Teil der Erklärung könnte auch die finanzielle Situation der Angeklagten sein. Nachdem sie jahrelang das Geld für die Familie verdient hatte, war sie zuletzt arbeitslos, bezog auch kein Bürgergeld, es war wohl ziemlich knapp. Laut Schwägerin der Angeklagten habe das Opfer erzählt: Als sie bei ihr vor der Wohnung stand, habe die Beschuldigte gewirkt, als sei sie vor jemanden auf der Flucht. Ihrer Aussage und der Anklage zufolge habe sie die Seniorin an deren Wohnung abgepasst, Geld gewollt und sei umgehend handgreiflich geworden, als sie es nicht erhielt. Noch im Krankenhaus habe ihre Mutter erzählt, dass sie die Ex-Schwiegertochter nur deswegen in die Wohnung gelassen habe, weil sie so ängstlich gewirkt habe, sagt die Zeugin.

„Wenn diese Leute ihr Geld wiederhaben wollen und du hast es nicht: Dann kommen sie nicht zu dir, sondern zu uns.“

Tochter
der Angeklagten zu ihrer Mutter

Laut ihrer älteren Tochter habe die Mutter sich auch geweigert zu erzählen, wo sie auf einmal 2500 Euro her habe. Geliehen, sei die Antwort gewesen, sie werde es in Raten zurückzahlen. „Dabei hat sie den Eindruck vermittelt: Das sind Leute, mit denen man sich besser nicht anlegt.“ Sie habe ihrer Mutter Vorwürfe gemacht: „Wenn diese Leute ihr Geld wiederhaben wollen und du hast es nicht: Dann kommen sie nicht zu dir, sondern zu uns.“ Ihre Mutter habe nur entgegnet, dass diese Leute gefährlich seien und sie nicht benennen könne.

Das Verfahren vor dem Siegener Landgericht: Aussagen basieren auf Hörensagen

Problematisch beim Verständnis des Geschehens ist bislang: Fast alle Angaben basieren nur auf Hörensagen. Die Angeklagte selbst könne sich an nichts mehr erinnern, die fraglichen Stunden seien wie ausgelöscht aus ihrem Gedächtnis; was zwischen dem Verlassen ihrer Wohnung und der Rückkehr passiert war, wisse sie nicht mehr. Auch die Angaben der Geschädigten sind problematisch, weil sie sich teils erheblich widersprochen hatte und ihre Schilderung der Tat teils unlogisch waren. Alle weiteren Zeugen können nur das berichten, was Opfer und mutmaßliche Täterin gesagt oder wovon die jüngere Tochter der Angeklagten ihnen erzählt habe.

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Angesetzt sind bis Ende Februar noch sechs weitere Verhandlungstermine; weiter geht es am Dienstag, 21. Januar, um 9.30 Uhr.