Siegen. In der Bluebox in Siegen spielte Farshad Kasemi zum ersten Mal Klavier. Sein Talent führte ihn zur VOX-Show „The Piano“. „Bildung ist wichtig.“

„Ich habe das Klavier das erste Mal in einem Jugendtreff in Siegen ‚getroffen‘“, sagt Farshad Kasemi. Die Bluebox in der Sandstraße ist ein Ort, an dem der 21-Jährige ganz für sich allein spielt. In der neuen Vox-Sendung „The Piano“, in der unentdeckte Talente ihre besondere Geschichte am Klavier erzählen, hatte Kasemi die Chance, seine Leidenschaft einem großen Publikum zu zeigen. Sein selbst komponiertes Lied „Ohne Titel“ verbinde er mit der Zeit, die er in der Türkei verbracht hat und mit der Kinderarbeit. „Das Stück kannte bislang noch keiner. Das habe ich bisher nur für mich gespielt.“

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In einem Einkaufscenter in Bonn spielte er im Frühjahr letzten Jahres Klavier und wurde von einem Mann der Produktionsfirma angesprochen, ob er bei der Show mitmachen wolle. „Ich habe natürlich sofort zugesagt“, sagt Kasemi. Ein Jahr später war er dann zu den Aufnahmen in dem Einkaufszentrum des Leipziger Hauptbahnhofs, die Ausstrahlung der ersten Folge war am 24. September um 20:15 auf dem Fernsehsender „Vox“ zu sehen. „Vor Ort war ich dann sehr nervös, aber ich habe mich sehr gefreut, dass ich eingeladen wurde.“ Ein Kandidat aus jeder Stadt hat die Chance, mit Mark Forster und Igor Levit in der Wuppertaler Stadthalle zu stehen. „Leider hat es nicht gereicht. Es wurde jemand anderes ausgewählt“, sagt Kasemi.

Siegen: Farshad Kasemi hat Kinderarbeit in einer Textilfabrik verrichtet

Farshad Kasemi wird jedes Mal emotional, wenn er Kinder von ihrem Alltag oder seine Freunde von ihrer Kindheit erzählen hört, wie sie zusammen vor dem Fernseher saßen oder Sport getrieben haben. All das hatte er nicht.  

Farshad
Bluebox in Siegen: Hier spielt Farshad Kasemi Klavier. Der 21-Jährige durchlief eine bewegte Kindheit, geprägt von Flucht, Kinderarbeit in Textilfabriken und dem Streben nach Bildung. © Westfalenpost | Ronja Afflerbach

Kasemi musste schon früh erwachsen sein und arbeiten. Der 21-Jährige ist im Iran aufgewachsen und hätte die Möglichkeit gehabt, zur Schule zu gehen. „Die Lehrer haben Gewalt angewendet. Die Kinder haben sich geschlagen. Deshalb bin ich nicht zur Schule gegangen und habe meine Eltern angelogen.“ Der Grund für seine Ausgrenzung war, dass er Afghane und nicht Iraner ist. Seine Eltern flohen damals von Afghanistan in den Iran, um Farshad Kasemi und seinen Brüdern ein besseres Leben zu ermöglichen. 

Siegen: Farshad Kasemi ist nicht zur Schule gegangen

Aus dem gleichen Grund seien er und seine Familie dann in die Türkei geflohen. Details über die Flucht will er nicht nennen. In der Türkei wurde das Leben für ihn und seine Familie nicht einfacher; seine Eltern hatten kein Geld, die Ersparnisse waren für die Flucht aufgebraucht. Sie kamen bei einem Onkel unter, der schon länger in der Türkei lebte, aber das ging nicht lange gut, denn sein Vater fand keine Arbeit. Ein Übersetzer, den sie bei einem Besuch im afghanischen Konsulat in der Türkei kennengelernt haben, brachte die Familie Kasemi dann nach Istanbul, zuvor lebten sie in der Stadt Kastamonu, im nördlichen Teil der Türkei. In Istanbul fand Farshads Vater Arbeit. Zur Schule gehen konnten Farshad Kasemi und sein Bruder nicht – „wegen unseres Aufenthaltsstatus. Wir sind in die Koranschule gegangen. Lesen und Schreiben habe ich mir über YouTube beigebracht“, sagt Farshad Kasemi.

Mit neun Jahren begann Farshad Kasemi in einer Textilfabrik, die Klamotten für die Türkei produzierte, zu arbeiten. „Mein Bruder hatte das gemacht und wurde krank. Ich bin für kurze Zeit eingesprungen und habe dann in der Fabrik gearbeitet.“ Anfangs, erzählt er, habe er noch Kaffee geholt, Sachen gefaltet und 400 Türkische Lira (circa 10 Euro) im Monat verdient. „Aber ich wollte mehr verdienen und habe mich in den Pausen an die Nähmaschine gesetzt und gelernt.“ So kam er auf einen monatlichen Lohn von 1200 Lira (ca. 30 Euro). Seinen Lohn gab er fast vollständig seiner Familie. Sechs Tage pro Woche habe er gearbeitet. „Die Arbeitszeiten waren von 6 Uhr morgens bis 22 Uhr abends.“

Siegen: 2015 Flucht nach Deutschland - „40 Tage waren wir unterwegs“

Am Sonntag, seinem freien Tag, ging er in ein Internetcafé. „Dort habe ich Internetspiele gespielt. Das war damals mein Hobby.“ In der Textilfabrik hätten viele Usbeken und Syrer gearbeitet, aber die meisten seien keine Kinder, sondern Erwachsene gewesen, erzählt Kasemi. Mit dem Chef der Textilfabrik hat er heute noch Kontakt. Farshad Kasemi habe ihn zuletzt 2022 mit seinem Bruder in der Türkei getroffen. „Ich erinnere mich noch gut an die Zeit. 2015 sind plötzlich immer wieder syrische Arbeiter verschwunden und ich hörte nur, dass sie nach Germany gegangen seien. Damals wusste ich nicht, was Germany bedeutet.“ 

2015 machte sich auch Farshad Kasemi mit seiner Familie auf den Weg nach Deutschland. Von der Türkei aus fuhren sie mit einem Schlauchboot nach Lesbos. Für so viele Menschen war das Boot nicht ausgelegt – es waren zu viele Menschen, Koffer, Wasserkanister. „Ich habe erst realisiert, was wir tun, als wir mitten auf dem Meer waren und nur noch die unendliche Weite sahen.“

Siegen: Der 21-Jährige komponiert eigene Stücke

Als Farshad Kasemi mit seiner Familie auf Lesbos ankam, sah er rote Westen auf einem Haufen liegen. Er legte seine und die seiner Familie dazu. Auf Lesbos fanden sie wieder einen Schmuggler, der sie auf einem Schiff nach Athen brachte, bevor es nach Serbien weiter ging. In Serbien gab es viel zu essen und Kleidung für Geflüchtete. Farshad Kasemi war zum ersten Mal wieder glücklich. Sie flohen von Serbien nach Ungarn, über Österreich nach Deutschland. 40 Tage hat die Flucht gedauert. „In Deutschland angekommen hatte ich erstmal einen Kulturschock, sowas habe ich noch nie gesehen. Hier musste ich nicht arbeiten, hier konnte ich lernen und meine Hausaufgaben machen.“ Zwei Jahre lang mussten er und seine Familie in einem Flüchtlingsheim leben. „Die Zeit war sehr schwierig, weil ich in der Schule keinen Anschluss gefunden habe.“ Dann wurde er auf das Angebot der Bluebox in Siegen aufmerksam. 

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„Ein Schüler hat mich zum Billardspielen mitgenommen.“ Dort hörte er einen Freund von ihm den Soundtrack aus dem Film „Fluch der Karibik“ spielen. „Das muss ich auch lernen“, dachte er sich. „Genau an dem Tag habe ich vier Stunden geübt und dann immer weiter. Jeden Tag, jeden Tag, bis ich irgendwann gemerkt habe: Ich kann Klavier spielen.“ Noten kann er nicht lesen. Er spielt nach Gehör und spielt keine Stücke mehr nach, sondern komponiert selbst. „Für mich ist Klavierspielen Improvisieren und Komponieren.“ Das Klavier ist für Farshad Kasemi ein Ventil, um seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, seine Geschichte zu verarbeiten und endlich das zu tun, was ihm Spaß macht, was ihn erfüllt.

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Wie gut er ist, hat er dann in der Vox-Sendung gezeigt. Nur knapp hat er den Siegerplatz verpasst. Wenn Farshad Kasemi spielt, spürt man, dass hinter diesem Künstler eine Geschichte steckt, die man nicht mit Worten ausdrücken kann, sondern nur mit Musik. Farshad Kasemi lebt mit seiner Familie in Siegen. „Ich weiß, dass es meinen Eltern sehr schwergefallen ist, dass ich arbeiten gegangen bin.“ Kasemi macht eine Ausbildung im Einzelhandel und „bald fange ich meinen Führerschein an. Ich bin sehr glücklich, in Deutschland zu sein.“