Siegen. T-Shirt zu eng, Jeans zu weit? Ein Unternehmen aus Siegen bietet eine App, die im Voraus berechnen kann, ob online gekaufte Kleidung auch sitzt.
Häufiger Satz beim Klamottenkauf: „Eigentlich müsste diese Größe passen.“ Tut sie oft aber nicht, und beim Online-Shopping gehen die Sachen dann für viel Geld, Aufwand und CO2-Emissionen zum Händler zurück. Ein Siegener Unternehmen will das ändern. Die Virtual Retail GmbH bietet eine Software an, mit der sich vor der Bestellung realistisch einschätzen lässt, ob und wie ein bestimmtes Kleidungsstück passt. Das soll allen Beteiligten Frust und Kosten ersparen. Einige Shops nutzen die Technik bereits.
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Eigentlich sollte die Sache ganz einfach sein: Wenn jemandem T-Shirts in Größe M oder Kleider in 42 passen, sollte das immer zutreffen. Tut es in der Praxis aber nicht. Theoretisch gibt es zwar Maßstäbe und sogar Normen dafür, wie Größen festgelegt werden; doch in der Realität gibt es ein enormes Durcheinander. Die Angaben variieren zwischen verschiedenen Herstellern, teilweise sogar innerhalb der Sortimente eines Labels. Und da global agierende Marken Kollektionen weltweit anbieten, die Größenzuschreibungen aber zwischen verschiedenen Ländern unterschiedlich ausfallen, wird es zusätzlich verwirrend. Hinzukommen Winkelzüge wie das sogenannte Vanity-Sizing (in etwa „Eitelkeits-Größen“): Hersteller geben kleinere Größen an als die, die ein Kleidungsstück eigentlich haben müsste – weil Teile der Kundschaft lieber eine angebliche Größe 38 kaufen, auch wenn es faktisch eine 42 ist.
Siegen: Online Kleidung kaufen – App „sizeez“ kann voraussagen, was wirklich passt
Virtual Retail bietet deshalb mit „sizeez“ ein System an, das die realen Körpermaße des Kunden oder der Kundin mit der Passform der realen Kleidungsstücke abgleicht, sodass Online-Shops auf dieser Grundlage Empfehlungen geben können, welche Größe im konkreten Fall passt. Erforderlich sind dafür lediglich zwei Fotos, wie Mitgründer und Geschäftsführer Dr. Lin Wan erklärt: Eines von vorne und eines von der Seite. In Verbindung mit Angaben zu Größe und Geschlecht werden daraus mithilfe Künstlicher Intelligenz die Körpermaße errechnet und ein Modell mit präziser Silhouette erzeugt.
Software im Einsatz
Gegründet wurde die Virtual Retail GmbH 2016 von Dr. Lin Wan und Benedikt Ley (beide sind heute Geschäftsführer), außerdem von Prof. Dr. Martin Hill und Prof. Dr. Bernd Buxbaum.
Die GmbH ist Teil der ifm-Unternehmensgruppe, die nach eigenen Angaben weltweil mehr als 8100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat.
Sizeez wird unter anderem genutzt von Online-Shops wie loui.rocks/de, makkana.de oder gentlemananzug.ch.
„Wir haben unsere Geschäftsidee zu KI gewandelt“, sagt Lin Wan. Anfangs habe das 2016 gegründete Unternehmen, das heute im Summit im Leimbachtal sitzt, 3D-Scans nutzen wollen. Dank entsprechender 3D-Kameras in Smartphone hätten die Userinnen und User diese Scans relativ leicht erstellen können. Doch die Technik setzte sich nicht durch, also entwickelte das Team eine Alternative. Diese, merkt der Geschäftsführer an, sei sogar in der Handhabung noch einfacher: Mit den zwei Fotos lässt sich das Körpermaße-Modell binnen Sekunden generieren – und aus Datenschutzgründen wird es den Shops ohne Gesicht und somit anonymisiert übermittelt.
Siegen: Retouren im Online-Handel sollen dank neuer App sinken
Datenschutz ist allerdings nicht der einzige Grund, wieso sizeez kein exaktes Abbild eines Menschen erschafft. Die Idee, dass ein virtueller Zwilling die ideale Schablone sein dürfte, um nicht nur die Passform, sondern auch das Aussehen eines Kleidungsstücks an der eigenen Person vorab testen zu können, bewährt sich in der Praxis nicht. „Das kommt irgendwie nicht an“, sagt Aisuluu Berdikeeva, Business Development Managerin bei Virtual Retail. „Das kann sogar nach hinten losgehen.“ Nicht jeder und jede würden es mögen, sich auf dem Bildschirm zu sehen, vielleicht sogar mit sich hadern und dann von Käufen Abstand nehmen, die andernfalls – und mit in der Realität durchaus zufriedenstellendem Ergebnis – getätigt würden.
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Sizeez gibt also keine Entscheidungshilfe, ob das jeweilige Kleidungsstück an sich gefällt, sondern dafür, ob es passt (wobei damit natürlich die Wahrscheinlichkeit, dass es auch optisch überzeugt, deutlich steigt). Damit lasse sich „ein Teufelskreis“ stoppen, wie Aisuluu Berdikeeva erläutert. Zu Zeiten, als noch fast alle Online-Shops kostenlose Retouren anboten, seien eben diese aus dem Ruder gelaufen. Tatsächlich war es für viele Leute quasi selbstverständlich, ein Teil einfach in mehreren Größen zu bestellen, das passende zu behalten und die anderen zurückzusenden. Ökonomisch und ökologisch ein Desaster: Der Rückversand kostet den Händler Geld, außerdem braucht er Personal, das die Retouren verwaltet, neu verpackt oder aussortiert. Und auf den Straßen sind Paketfahrzeuge unterwegs, um Retouren durch die Gegend fahren, die es nicht unbedingt gebraucht hätte. Etliche Shops, so Aisuluu Berdikeeva, würden für Retouren inzwischen Geld verlangen. „Dann muss ich als Händler den Kunden aber eine Alternative bieten, damit es zu weniger Retouren kommt.“ An dieser Stelle ist sizeez am Zug.
Siegen: Körpermodelle erstellen mit sizeez – Nutzen auch über Klamottenkauf hinaus
Das System ermöglicht noch andere Anwendungen. Online-Anbieter für maßgeschneiderte Kleidung etwa nutzen es. Kundinnen und Kunden könnten sich damit Sachen auf den Leib schneidern lassen, ohne den möglicherweise weit entfernten Laden zum Maßnehmen aufsuchen zu müssen. Ein Hersteller von Fitnessgeräten verwendet sizeez, um gemäß des Körpermodells Sitz- und Lenkerposition eines Ergometers optimal einzustellen. Hersteller von Matratzen haben angefragt, weil sie mit dieser Technik den individuellen Körperformen angepasste Matratzen produzieren könnten. Berufskleidung, die häufig noch spezielle Sicherheitsfunktionen erfüllen muss, ließe sich persönlichen Proportionen gemäß gestalten.
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Vor allem für individualisierte Produkte seien die Einsatzmöglichkeit groß, betont Aisuluu Berdikeeva. In vielen Bereichen, gerade in der Mode, „ist der Markt eigentlich übersättigt“. Exakt nach Kundenbedürfnissen gefertigte Artikel versprächen da einen Mehrwert: „Es soll an mir passen und genau mir gehören.“
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