Siegen/Köln/Prag. Der Siegener Pianist Alexander Breitenbach ist Teil eines Projekts, das Werke verfemter Komponisten zurück nach Theresienstadt bringt.
Düstere Zellen, drückende Enge, eine Atmosphäre des Grauens. Bilder, die sich auf die Seele gebrannt haben. Schwer zu verarbeiten, zu ertragen dann doch. Denn es gibt selbst in Theresienstadt, in Terezín, wie das heute fast ausgestorbene böhmische Städtchen auf Tschechisch heißt, Hoffnung. Die nährt sich aus der Begegnung mit einer Musik, die zum Teil in der einstigen jüdischen Ghettostadt entstanden ist, die dort gespielt wurde und womöglich half, das Unabdingbare zu ertragen. Diese „unerwünschte Musik“ hat überlebt und lebt. Wieder!
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Dass Werke von Gideon Klein, Pavel Haas oderViktor Ullmann, von Erwin Schulhoff oder Hans Krása (dem Schöpfer der Kinderoper „Brundibár“) stärker oder überhaupt ins Bewusstsein rücken, dass diese musikalischen Ideen neu entdeckt werden und inspirieren, ist das Bestreben des auf vier Jahre angelegten Projekts „musica non grata“. Den großen Rahmen setzt dabei die Prager Oper mit Unterstützung des Auswärtigen Amts. Und dort hinein passte sich in der vorigen Woche zum ersten Mal die „Terezín Summer School“ ein. Sie ermöglichte es Studierenden der Hochschule für Musik und Tanz Köln und der Masaryk Universität Brno, in Theresienstadt zu arbeiten. Und damit eben dort, wo ab 1940/41 die Nazis mehr als 150.000 Menschen (Männer, Frauen, Kinder) internierten, um sie von hier zumeist in die Vernichtungslager nach Osten zu transportieren.
Siegener Pianist Alexander Breitenbach wirkt mit beim Projekt „musica non grata“
Der musikwissenschaftliche Part lag bei der tschechischen Gruppe um Prof. Dr. Lubomír Spurný vom „Terezín Composers Institute“. Ihm ist es seit Jahren ein Anliegen, die Musik aus dem jüdischen Ghetto gewissermaßen zu befreien. Hören ließen die Werke der verfolgten Komponistinnen und Komponisten junge Musikschaffende aus Köln, darunter der Siegener Pianist Alexander Breitenbach und Bratschist Weichue Chen, zuletzt bei der Philharmonie Südwestfalen unter Vertrag. Die Gruppe hatte für ihre Konzerte ein Repertoire erarbeitet, das die „musica non grata“ auch im Spiegel von Dvořák und Janáček (eine Hommage an die tschechischen Gastgeber) glänzen ließ. Angeleitet wurde sie von Prof. Florence Millet; sie engagiert sich mit dem Projekt „EchoSpore“ seit Jahren für das Auffinden und Wertschätzen von Musik verfolgter Tonsetzer.
Zu sehen und auch zu spüren, wo und wie diese Musik wurde, was sie ist, hat die jungen Musikerinnen und Musiker nachhaltig beeindruckt und zum Teil ihre Sicht auf die Werke verändert. „Natürlich haben wir uns vorher darüber informiert, welche Geschichte die Stücke haben“, sagt Alexander Breitenbach. „Aber wenn man dann hier an diesem Ort ist, wird die Geschichte lebendig. Das ist tiefergehender.“ Er sehe sich nun noch stärker in der Pflicht, „auch dafür zu werben, dass diese Werke bekannter werden“.
Konzert in der Deutschen Botschaft in Prag
In Theresienstadt glänzte der Pianist solistisch (etwa mit Musik von Ernst Bachrich, die er auch auf einer CD eingespielt hat), aber auch als aufmerksam gestaltender Begleiter. Zum Beispiel bei den kleinen großen Stücken von Ilse Weber. Die 1903 in Ostrava geborene Dichterin wurde nach der Nazi-Besetzung Böhmens und Mährens nach Theresienstadt deportiert, arbeitete da als Kinderkrankenschwester. Einer ihrer zwei Söhne konnte mit einem Kindertransport nach England emigrieren, der andere Junge blieb bei ihr. 1944 kam sie mit den ihr anvertrauten Kindern nach Auschwitz, wurde dort ermordet. Ihre Lieder, vielleicht auch das traumschöne „Wiegala“ und das todtraurige „Und der Regen rinnt“, spendeten den Kindern bis zuletzt Trost.
Drei von 64 überlebten
Am 27. Juli 1942 ging auch vom Siegener Bahnhof aus ein Transport nach Theresienstadt. Von den damals deportierten 64 Jüdinnen und Juden, meist ältere Menschen, überlebten drei, wie Traute Fries vom Aktiven Museum Südwestfalen weiß: Selma Jung geb. Frank, Louis Rosenberg und Julius Löwenstein. Seit Jahrzehnten erinnert eine (inzwischen erneuerte) Gedenktafel an die KZ-Transporte an Gleis 4.
Am Ende eines dichten Programms aus Proben und Aufführen, Lehren und Lernen und auch dem Besuch der bis heute vom Entsetzen geprägten historischen Stätten in Theresienstadt stand ein Konzert an einem anderen geschichtsträchtigen Ort: im Kuppelsaal der Deutschen Botschaft in Prag. Das Best-of-Programm bündelte das gemeinsam Erlebte und individuell Verinnerlichte. Auch jenen Vormittag in der „Kleinen Festung“, dem Gestapo-Gefängnis von Theresienstadt, wo der Schrecken noch über den Höfen und Gräbern hing, wo Worte fehlten, der Atem stockte.
Projekt „musica non grata“ will die Erinnerung wachhalten
„Schwer zu verkraften“, so Per Boye Hansen. Der Künstlerische Direktor der Prager Oper stieß an diesem nüchternen Unort dazu. Mit „Musica non grata“ geht es dem Norweger, der das Projekt insgesamt verantwortet, durchaus um das Wachhalten der Erinnerung. „Was passiert ist, ist bedeutsam.“ Zugleich setzt er sich für „eine Wiederbelebung“ dessen ein, was unter schwierigsten Umständen musikalisch entstanden ist. Hansen: „Diese Musik war nicht ,gegen die Nazis‘, sondern sie bewegte Themen. Sie hatte Humor, war avantgardistisch, vielfältig, modern.“ Den um ihr Leben gebrachten Musikerinnen und Musikern wird und möge sie eine Art Ankerpunkt gewesen sein.
Mehr Infos zum Projekt und zum bis 2024 von „Musica non grata“ mitgeprägten Spielplan der Prager Oper gibt es hier.
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