Meschede. Wenn das HSK-Jugendamt Kinder unterbringen muss, weil sie akut gefährdet sind, hilft eine besondere Pflegemutter. Was sie erlebt hat.

Als der Anruf kam, war die Sauerländerin gerade aus dem Urlaub zurück. Wieder mal musste es schnell gehen, diesmal für die vierjährige Lina (Name von der Redaktion geändert). Janik Giese, beim Kreisjugendamt in Meschede zuständig für die Bereitschaftspflege, suchte dringend eine Pflegefamilie.

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Seit 20 Jahren Bereitschaftspflege

„Wenn ein solcher Anruf kommt, dann weiß ich im Anschluss nur, ob ein Junge oder ein Mädchen kommt und wie alt das Kind ist. Danach richtet sich dann, welches Bett ich aufbaue und welche Kleidung ich aus den Kartons suche.“ Claudia Schulte (Name von der Redaktion geändert) ist seit 20 Jahren Pflegemutter in der Bereitschaftspflege. Sie will anonym bleiben, um die Kinder zu schützen, hofft aber, dass ihr Beispiel anderen Familien Mut macht, Pflegekinder aufzunehmen. „Unser Jüngster war vier, als wir damit begonnen haben“, erzählt sie.

Die gelernte Hauswirtschaftslehrerin führt mit ihrem Mann einen landwirtschaftlichen Betrieb. 2004 hatte sie gerade einen Tagesmütter-Kurs absolviert, als sie gefragt wurde, ob sie sich auch vorstellen könne, in ihre Familie Kinder zur Bereitschaftspflege aufzunehmen. 14 Tage später hatte sie nicht mehr vier Kinder um den Küchentisch sitzen, sondern sechs. Die Pflegekinder waren zweieinhalb Jahre und elf Monate alt, ihre Älteste damals zwölf.

23 Kinder in 20 Jahren

In der Folgezeit kamen immer wieder Kinder, die aus unterschiedlichen Gründen ein Zuhause brauchten, das jüngste war sechs Tage, das älteste sechs Jahre alt. 23 Kinder in 20 Jahren. „Anfangs weiß ich wenig über die Kinder, und über die Gründe, warum das Jugendamt sie zum Beispiel in Obhut genommen hat, ich will es auch gar nicht genau wissen“, sagt sie. Alle Jungen und Mädchen hatten traumatische Erlebnisse, wurden vernachlässigt, geschlagen, missbraucht. Bei manchen konsumierten die Mütter Drogen und Alkohol in der Schwangerschaft. Einen Sechsjährigen hatte die Polizei im Puff in Winterberg aufgegriffen. Auch das nicht-behinderte Kind eines behinderten Paares blieb, bis sich eine Pflegefamilie fand.

Auf ihrem Bauernhof bietet die Familie den Pflege-Kindern eine feste Struktur. Auch Treckerfahren gehört für die kleine Lina (Name von der Redaktion geändert) dazu.
Auf ihrem Bauernhof bietet die Familie den Pflege-Kindern eine feste Struktur. Auch Treckerfahren gehört für die kleine Lina (Name von der Redaktion geändert) dazu. © Funke Medien NRW | Ute Tolksdorf

Struktur geben

Man müsse den Kindern nichts Besonderes bieten. Im Gegenteil. „Unser Vorteil ist, dass die Landwirtschaft den Rhythmus bestimmt. Hier ist jeder Tag gleich“, erzählt die heute 62-Jährige. Das gibt den Kindern Sicherheit - Sicherheit für eine Woche oder zwei Jahre. Sie weiß, dass sie die Jungen und Mädchen immer nur auf Zeit betreut, bis das Gericht entschieden hat, dass sie in eine Pflegefamilie wechseln oder den Eltern zurückgegeben werden. In der Zwischenzeit kümmert sich Claudia Schulte um den Alltag, die Kita, um Therapien. Eine Tagesmutter unterstützt sie aktuell zweimal pro Woche. Auch Elternbesuche gehören zum Programm. „Dafür treffen wir uns im Jugendamt.“ Eine schwierige Situation, „da sitzen dann bis zu vier Erwachsene um das Kind herum, das einfach nur spielen soll.“

Bei der Sauerländer Familie ist immer ein Platz für Pflegekinder.
Bei der Sauerländer Familie ist immer ein Platz für Pflegekinder. © Funke Medien NRW | Privat

Selbständig auf den Trecker klettern

Zu Hause bietet sie ihm den ganz normalen Familienalltag, liest vor, spielt und singt, kuschelt. „Das muss aber von den Kindern kommen“, betont sie. Lina kam am Anfang nicht die Treppe hoch, trippelte auf Zehenspitzen und hatte sich - möglicherweise über Hörspiele - eine ganz eigene Sprache angeeignet, erzählt die Pflegemutter. Jetzt, sieben Monate später, stapft das Mädchen in pinken Gummistiefeln über den Hof und klettert allein zu seinem Pflegevater auf den Trecker.

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Loslassen bleibt ein wichtiges Thema

Die Familie muss mitziehen, das sei wichtig, sagt Claudia Schulte. Auch ihre eigenen Kinder hätten von den Pflegekindern profitiert, weil sie früh Verantwortung übernommen hätten. „Für mich ist es erfüllend, dass ich den Jungen und Mädchen ein Stück auf ihrem Lebensweg weiterhelfen kann. Ich versuche sie dazu zu befähigen, dass sie irgendwann allein klarkommen.“ Dafür sei es auch wichtig, dass sie selbst loslassen kann. „Es steht ja von Anfang an fest, dass sie wieder gehen.“ Sie habe dazu mittlerweile eine professionelle Haltung entwickelt. Und es falle ihr auch nicht so schwer, wenn für die Kinder eine Pflegefamilie gefunden worden sei, Eltern, die sich dieses Kind wünschen. „Wenn Lina einmal leichten Herzens geht, ist das für mich auch in Ordnung.“

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