Meschede. Im Norden von Meschede sind Frauen und Kinder aus der Ukraine nach einer Odyssee angekommen. Sie wohnen bei Familien. Wie der Alltag jetzt wird.
„Michael, du musst meine Kinder retten!“ Sieben Kinder hat Irina, die in Meschede der Mutter von Michael Krick als Haushaltshilfe zur Seite steht. Das typische Modell einer 24-Stunden-Betreuung, drei Monate arbeitet sie hier, dann kommt eine Kollegin. Doch diesmal ist ihre Zeit im Mescheder Norden plötzlich überschattet vom Krieg in ihrer Heimat der Ukraine. Ihre Familie lebt in Nikopol, einer Stadt etwa 500 Kilometer südlich von Kiew und 300 Kilometer westlich von Mariupol, der umkämpften Großstadt am Arsowschen Meer.
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Michael Krick hat selbst zwei Mädchen, er kann sich die Nöte der Mutter vorstellen. Aber selbst nach der Arbeit noch einen Bulli chartern und zur polnischen Grenze fahren? Das traut er sich nicht zu. Also bucht er kurzerhand einen Kleinbus, um die angekündigten sechs Familienmitglieder in Dresden abzuholen.
Odyssee auf de Flucht von Nikopol nach Meschede
Die erleben derweil eine wahre Odyssee: Erst verlassen sie mit dem Auto Nikopol, dann geht es in Dnepr in den Zug. Zu der Zeit sitzt Irina noch zu Hause und verfolgt über WhatsApp voller Sorge, wie ihre Kinder im Regen und Schnee ausharren, ihren Platz in der Schlange nicht verlassen, aus Angst der Zug könnte ohne sie losfahren, hungern und frieren. Dann wird der Zug umgeleitet - statt nach Lwiw geht es erst ins 140 Kilometer entfernte Ternopil - und später beschossen. Zwei Stunden liegen Töchter, Schwiegertöchter und Enkel unter den Waggons, bis sie endlich die Grenze erreichen und in Polen von ehrenamtlichen Helfern weitergefahren werden.
In Meschede startet der Bus. Irina begleitet den Fahrer der Hunau-Reisen. Doch unterwegs heißt es plötzlich: Nicht mehr Dresden ist das Ziel, sondern Görlitz an der polnischen Grenze - und vor Ort kann die Mutter zwar Teile ihrer Familie in die Arme schließen. Doch ein Teil muss zurückbleiben. „Ein polnischer Taxifahrer hat sie schließlich nach Meschede gebracht, eine Nacht hier geschlafen und ist wieder zurückgefahren“, berichtet Nele Materlik. Die 28-Jährige ist Mieterin im gleichen Haus, in dem Irina arbeitet.
14 Personen suchen eine Unterkunft
14 Personen sind es plötzlich, die untergebracht und versorgt werden müssen. Nele Materlik klingelt einfach beim nächsten Nachbarn: Michael Brieden. Der Schützenhauptmann der Schützengemeinschaft Meschede-Nord kümmert sich. Eine kurze Anfrage im Vorstandsteam ergibt: Eine freie Wohnung gibt es bei Sylvia Wegerich, eine weitere findet sich bei Familie Nieder in Heggen. Vier Personen finden Platz im Hause Krick. Eine beispiellose Hilfsbereitschaft und eine emotionale Achterbahnfahrt sei das gewesen, erzählt Michael Krick. „Der Busfahrer ist extra noch mal vorbeigekommen, er wollte sich überzeugen, dass es vor allem den Kindern gut geht.“
Zwischenzeitlich erfährt Michael Brieden von weiteren Ukrainern, die in Enste bei Viktor Hepner angekommen sind. Auch für sie sucht und findet er gemeinsam mit anderen eine Unterkunft. In Freienohl macht Familie Kordel Platz, kümmert sich um Kinderbetten, sogar um die passende Kinderbettwäsche. Die Flüchtlinge sind völlig erschöpft. Drei, manche sogar sieben Tage, waren sie auf der Flucht. Wie Zombies seien sie aus dem Bus gestiegen, erinnert sich Michael Krick und hätten erstmal nur geschlafen.
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Das Heimweh in die Ukraine ist trotz aller Not beherrschend
Svetlana und Eugenia, Tochter und Schwiegertochter von Irina mit den Kindern Amelia und Kristina, haben nun einen Platz bei Sylvia Wegerich gefunden. Die 80-Quadratmeter-Wohnung in ihrem Haus in der Waldenburger Straße stand leer. „Ich hatte schon überlegt, sie für Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen“, erzählt sie. „Die Nachbarn haben dann sofort eine Spenden-Aktion gestartet, vor allem Lebensmittel und Hygieneartikel gebracht“, berichtet die Meschederin. Die beiden Ukrainerinnen hätten gestaunt und gefragt, für wen das denn alles sei, und wer Bad und Küche außer ihnen noch benutzen werde. „Sie konnten das erst gar nicht begreifen und dann kullerten bei uns allen die Tränen.“ Svetlana ist dankbar und gerührt über die Hilfsbereitschaft, erklärt sie über den Google-Übersetzer. Die 35-jährige Mutter der elfjährigen Kristina hat zwei Diplome, eins in Biochemie, das andere in Krankenpflege. Sie ist geschieden und hat als Leiterin in einer Mastanstalt gearbeitet: Sie will vor allem eins: „Nach Hause.“
Internetverbindung garantiert Draht nach Hause
Das sei bei fast allen, mit denen sie bisher gesprochen habe, das beherrschende Thema, erzählt Nele Materlik. Die vielen Eindrücke, die fremde Sprache, die traumatisierenden Erfahrungen der Flucht, das deprimiere und erschöpfe die Frauen. Die junge Lehrerin ist mit ihnen schon beim Einwohnermeldeamt gewesen, begleitet sie zum Sozialamt und bei Arztbesuchen. „Eine der Frauen in Heggen ist schwanger, bisher hatte sie keine Probleme, aber jetzt nach der Flucht geht es ihr nicht gut.“ Für die Kinder sollen möglichst bald Plätze in den Schulen gesucht werden. Es gibt einen Deutsch-Kurs bei der Diakonie. „Aber manche der Mütter wollen das gar nicht“, weiß Nele Materlik. Sie wollen vor allem eins: Die Sicherheit, dass sie zurückkönnen. „Und das Wichtigste im Moment ist die Internetverbindung, um Kontakt zu den Angehörigen halten.“ Andere organisierten sich bereits, wollen Deutsch lernen - und da laute dann die erste Frage: „Wie sieht es mit Arbeit aus?“
Da Irina in Kürze ihre Wohnung bei Kricks für eine neue Haushaltshilfe räumen muss, suchen die Helfer eine Unterkunft für sie und vier ihrer Kinder, möglichst ebenfalls im Mescheder Norden. Hilfsangebote bitte direkt an Michael Brieden: 0171 5214411