Kreis Olpe. Der Vater Alkoholiker, die Mutter depressiv – Marie (35) aus dem Kreis Olpe hatte eine grausame Kindheit. Was ihr Kraft gibt, nach vorne zu blicken.
„Ich habe die Luft angehalten, mich unter meiner Bettdecke versteckt und mich tot gestellt“, erinnert sich Marie (Name der Redaktion geändert). Marie ist zu dieser Zeit 16 Jahre alt. Die Türe zu ihrem Kinderzimmer hat sie abgeschlossen. Sie hat Todesangst. Es ist einer von vielen Abenden, an denen ihr Vater betrunken nach Hause kommt und die knarrende Holztreppe hochgeht, die in den ausgebauten Dachboden führt. Dort, wo Marie ihr Kinderzimmer hat. „Ich habe jede einzelne Stufe gezählt und wusste genau, wann er vor meiner Zimmertür stehen wird“, erzählt die heute 35-Jährige, die immer noch im Kreis Olpe lebt und mithilfe einer Traumatherapie ihre Kindheit aufarbeitet.
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„Tochter, lass mich rein“, rief ihr Vater immer wieder und klopfte an der Türe zum Kinderzimmer, erinnert sie sich. Und Marie hat in Gedanken das Vaterunser gebetet und Gott gefragt, wann das endlich aufhören wird. „Ich habe meine ganze Kindheit immer gedacht, dass ich so leben muss. Diese Todesangst zu haben. Es war die Hölle auf Erden“, erzählt Marie und weint. Es fällt ihr schwer, über das zu sprechen, was sie erlebt hat. Aber sie weiß auch, dass sie viel zu lange alles verdrängt hat, es in sich hineingefressen hat und vieles über sich ergehen lassen hat. „Ich habe nie mit jemanden gesprochen, weil ich immer dachte, dass mir niemand glauben wird“, so Marie.
Narben auf Haut und Seele
Unzählige Narben hat Marie auf der Haut. An den Oberarmen, den Beinen – und auf ihrer Seele. Sie kommt schon früh mit Drogen in Berührung und erlebt sexuelle Gewalt. Marie hat sich selbst verletzt und verdeckt die Narben unter ihrer Kleidung. Doch die auf ihrer Seele werden sie wohl ihr Leben lang begleiten, weil so viele Fragen offen sind, auf die Marie keine Antwort mehr bekommen wird. Im Oktober letzten Jahres hat sie zum ersten Mal ihre eigene Akte beim Jugendamt des Kreises Olpe eingesehen, auch um zu verstehen, wie der Verlauf ihrer Kindheit war. „Mir wurde immer gesagt, dass meine Mama mich nicht haben wollte. Im Nachhinein ist sie die einzige, die eine reine Weste hat, weil sie eine arme, verlorene Seele war. Sie hat mich geliebt“, erzählt die 35-Jährige.
Marie wird bei ihrer Geburt zur Adoption freigegeben und lebt fünf Wochen in der Adoptionsfamilie, ehe es sich ihre Mutter anders überlegt. „Sie hat mich sofort zurückbekommen.“ Vier Jahre lebt sie bei ihrer Mutter, ohne Erinnerung an diese Zeit. „Ich habe mich immer gewundert, warum es kaum Fotos von mir als Kleinkind gibt“, blickt sie zurück. Ihre Mutter sei schwer psychisch krank, schizophren und alkoholabhängig gewesen. „Sie hat es nicht mehr geschafft, sich um mich zu kümmern. Mit vier Jahren kam ich als Vollzeitpflegekind zu meinen Großeltern“, erinnert sich Marie.
Keine Vorwürfe an Großeltern
Bruchstücke ihrer Kindheit, die Marie längst verdrängt hat, werden durch die Traumatherapie wieder präsent, wie zum Beispiel der Tag ihrer Taufe mit sechs Jahren. „Mein Erzeuger hat es nicht geschafft, pünktlich zu meiner Taufe zu kommen, sondern kam erst später dazu, sturzbetrunken“, erzählt die junge Frau. Viele schlimme Bilder und Gedanken hat Marie wieder hautnah vor Augen. Abende, an denen sie ihren Vater nackt, betrunken und eingenässt auf dem Boden hat liegen sehen oder jenen Tag im Jugendalter: „Er hat versucht mich umzubringen, wollte mich mit einem Tischbein erschlagen und hat gerufen, dass er mich totschlägt, wenn er mich erwischt.“
Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen – Marie hat unter der häuslichen Situation gelitten. „Natürlich wurde ich in der Schule gehänselt. Ich war schließlich das einzige Kind, das bei den Großeltern aufgewachsen ist“, erzählt die 35-Jährige. An den Pranger stellen möchte sie ihre Großeltern nicht. Mittlerweile sind sie verstorben. „Klar mache ihnen ein Stück weit Vorwürfe und habe viele Fragen, aber im Großen und Ganzen bin ich ihnen dankbar. Sie haben mir viel ermöglicht und versucht, mit Geld einiges aufzufangen. Aber die Liebe und der Schutz, die ich als Kind in all den Situationen gebraucht hätte, haben gefehlt.“
Glaube an Gott gibt Kraft
Heute hat Marie selbst einen Sohn (12), geht regelmäßig zur Traumatherapie und hat mit ihrem starken Glauben an Gott zu neuem Lebensmut gefunden. „Ich rede mit Gott, als würde ich mit einem Kumpel sprechen und erzähle ihm, was mich beschäftigt. Ich hoffe auf Heilung meiner Wunden und der Angststörung“, erzählt Marie. Woher sie ihre Kraft nimmt, das Geschehene zu verarbeiten? „Für meinen Sohn, auch wenn es mir schwer nachhängt, dass ich ihm nicht die Familie bieten kann, die ich mir selbst immer gewünscht habe“, sagt Marie traurig. Sie ist alleinerziehend, berufstätig und studiert an einer Fernuniversität.
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All die Liebe, die ihr als kleines Kind verwehrt wurde, schenkt sie ihrem Sohn: „Das ist so wichtig.“ Und Marie selbst? „Manchmal fehlt mir die starke Schulter, die mir Halt gibt.“ Es ist neun Jahre her, dass Marie zum ersten Mal in ihrem Leben diese große Liebe gespürt hat. Viele Jahre war sie glücklich, bis die Beziehung durch verschiedene Einflüsse in die Brüche ging. Die Hoffnung auf eine glückliche Familie gibt Marie aber nicht auf: „Es gab einmal eine liebe ‚Schwiegermutter‘. Sie war die bisher einzige Frau, zu der ich gerne Mama gesagt hätte.“
Gewalt in der Familie: Hier gibt es Hilfe
Telefon-Seelsorge: 0800/1110111, 0800/1110222, www.telefonseelsorge.de
Frauen helfen Frauen e.V.: (02761) 1722, www.frauenhelfenfrauen-olpe.de
Frauenhaus Kreis Olpe: (02761) 834684 (24-Stunden-Notruf)
Bundeshilfetelefon: 116 016