Heinsberg. Die Eisenbahnverbindung zwischen Sauerland und Wittgenstein ist vermauert. 1944 fuhr der letzte Zug. Viele Gerüchte ranken sich um das Bauwerk.
Es ist ein geheimnisumwittertes Bauwerk und bis heute Mittelpunkt vieler Erzählungen, Gerüchte und Geschichten: der Heinsberger Tunnel, ein aufwendiges, mit großem Aufwand durch den Fels getriebenes Stück Verkehrs- und Militärgeschichte, das einst das Sauerland mit Wittgenstein verband und das nach nur kurzer Nutzung dem Eisenbahnverkehr entzogen wurde, eine Folge des Zweiten Weltkriegs, der für den Tunnel und besagte Geschichten eine große Rolle spielt. So „wissen“ viele von geheimen Tunnelröhren, die mitten im Berg abzweigen und fast unsichtbar vermauert wurden; ganze Züge, beladen mit Schätzen der Nazis, sollen hier versteckt worden sein. Auch gibt es Berichte von mehreren Exemplaren des Aggregats 4, wie der offizielle Name der angeblichen „Vergeltungswaffe 2“ (V2) lautete, die hier gebaut worden und bis heute im Tunnel verborgen sein sollen. Karsten Binczyk aus Valbert hat sich eigentlich der Erforschung des Altbergbaus der Region verschrieben, doch wer alte Bergwerke liebt, der kommt auch an einem historischen und zudem sagenumwobenen Eisenbahntunnel nicht vorbei. Binczyk hat die Geschichte des Tunnels in den Kriegstagen intensiv erforscht und in einem ausführlichen Bericht in der aktuellen Ausgabe der „Heimatstimmen“, der Mitgliederzeitschrift des Kreisheimatbundes Olpe, ausführlich dargelegt, dass an all diesen Geschichten nichts dran ist. Was allerdings wahr ist: Der Tunnel war fast fertig vorbereitet, um als sogenannte „U-Verlagerung“ kriegswichtige Dinge zu produzieren.
Binczyk hat gemeinsam mit dem Historiker Martin Pätzold aus Valbert und Gerhard Dreisbach aus Birkelbach in Wittgenstein, einem Experten für die einstige Bahnlinie Altenhundem-Birkelbach, den kompletten Tunnel mithilfe von Messgeräten und einem Laser-Nivelliergerät genauestens untersucht. Gleichzeitig war die LWL-Archäologie aus Olpe im Tunnel im Einsatz; Binczyk fasst zusammen, dass alle vorliegenden Ergebnisse ein recht klares Bild über die Verwendung des Tunnels im Krieg gäben, die vieles, was bisher in der Bevölkerung kursiert, ins Reich der Legende verwiesen.
Der 1913 gebaute Tunnel ist 1,3 Kilometer lang. Wie viele andere ähnliche Bauwerke, wurde er, nachdem die alliierten deutschen Kriegsgegner zunehmend die Lufthoheit über das Deutsche Reich infrage stellten, rasch dahingehend geprüft, ob er nicht zu einer unterirdischen Fabrik umgewandelt werden könnte. Diese sogenannten U-Verlagerungen (für „Untertage-Verlagerungen“) waren vor Beschuss und Bomben bestmöglich geschützt. Die Bahnstrecke Altenhundem-Birkelbach war ohnehin nicht stark befahren, und so fiel laut Karsten Binczyk im Oktober 1944 die Entscheidung, den Tunnel zum militärischen Objekt zu erklären. Der Bevölkerung wurde weisgemacht, der Tunnel sei baufällig und einsturzgefährdet, um die Sperrung plausibel zu machen – eine Lüge, die sich bis heute in vielen Erzählungen gehalten hat. Dann kam die Organisation Todt: Der Bautrupp der Nazis errichtete zunächst im zum Sperrgebiet erklärten Krenkelbachtal unmittelbar am Tunnelportal ein Kriegsgefangenenlager. 300 sowjetische und polnische Kriegsgefangene kamen hier unter, um den Eisenbahntunnel in eine unterirdische Fabrik zu verwandeln.
Nachdem zunächst vorgesehen war, Panzergerät der Firma Nordbau fertigen zu lassen, änderten sich die Pläne: Das Fulmina-Werk aus Mannheim sollte hier seine Lizenzfertigung von Perrot-Bremsen bombensicher unterbringen. „Taucher“ war der Tarnname des Vorhabens, später umbenannt in „Birk“. Belege für die in der Bevölkerung bis heute verbreiteten Behauptungen, hier sollten besagte V2-Raketen oder auch BMW-Flugmotoren hergestellt werden, findet Binczyk nirgends belegt.
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Die Isolatoren, die unter anderem die Stromversorgung, aber auch Telefonkabel in den Tunnel hineingeführt haben, sind zum Großteil bis heute erhalten. Binczyk hat sie fotografisch dokumentiert, ebenso wie die Spuren einer 600-Millimeter-Schmalspurbahn, die von der südlichen Seite in Richtung Röspe aus in den Tunnel verlegt wurde. Im Tunnel wurden mehrere Ausweichnischen, in denen sich eigentlich im Zugbetrieb Schienenkontrolleure zurückziehen konnten, aufgeweitet, um Platz für Maschinen zu machen. Nahezu der komplette Tunnelboden wurde mit Betonestrich aufgefüllt, in dem das Gleis fast verschwand. So wurde eine ebene Fläche von fast 5000 Quadratmetern für die geplante Fabrikation geschaffen. Dann wurde der Tunnel durch Einbauten für die geplante Fabrikation so umgebaut, dass er nicht mehr durchfahren werden konnte: Die Organisation Todt setzte über 300 Doppel-T-Träger in einer Höhe von 3,85 Metern in das Gewölbemauerwerk ein und verringerte so die Tunnelhöhe dermaßen, dass gerade einmal eine kleine Diesel-Rangierlok darunter durchgepasst hätte, keinesfalls aber mehr eine Streckenlok.
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Bis heute erhalten ist ein weißer Kalkanstrich, der offenbar in großer Eile und mit wenig Sorgfalt vorgenommen wurde: Karsten Binczyk erklärt, dass beispielsweise gestapelte Zementsäcke einfach umstrichen wurden. Sinn dieses Anstrichs: bessere Beleuchtung des Tunnels durch das Reflektieren der hellen Farbe. Einige inzwischen komplett ausgehärtete Kalksäcke hat Binczyk im Tunnel gefunden. Stollengänge oder versteckte Hohlräume, so Karsten Binczyk, finden sich im gesamten Tunnel nicht.
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Weitere Details zum Kriegsgefangenenlager und dem Tunnelumbau werden in der nächsten Ausgabe der „Heimatstimmen“ folgen, weiterhin plant Karsten Binczyk die Herausgabe eines kleinen Bandes, in dem er die kompletten Ergebnisse seiner Arbeit zusammenfasst. Er ist weiterhin an Hinweisen, Erinnerungen oder Fundstücken interessiert und via E-Mail an altbergbauforschung-nrw@gmx.de erreichbar. Der Tunnel indes ist heute vermauert, nur Fledermäuse und Amphibien gelangen ungehindert hinein. beide Portale und die Zuwegung liegen im Naturschutzgebiet und dürfen nicht betreten werden. Eisenbahnen fuhren nie wieder hindurch, weil die komplette Bahnstrecke durch Sprengung in den letzten Kriegstagen unterbrochen und nie wieder instandgesetzt wurde.