Lennestadt. Wegen Kindesmisshandlung muss sich ein 25-Jähriger verantworten. Es gibt viele Indizien. Die Entscheidung des Amtsgerichts ist überraschend.
„Wir haben jetzt eine gute Entwicklung des Kindes, das ist das Allerwichtigste“, erklärte Amtsrichter Edgar Tiggemann nach der vierstündigen Verhandlung vor dem Amtsgericht in Lennestadt. Es klang wie ein kleiner Trost für eine Lennestädter Familie, die sich im Herbst 2022 urplötzlich in einem Albtraum wiederfand. Der Stiefvater soll das Kind seiner damaligen Lebensgefährtin mehrmals grob misshandelt und ihm dabei sogar den Oberarm gebrochen habe. Die Aussagen der geladenen Zeugen belasteten den Angeklagten zum Teil schwer, dennoch blieb vieles unklar. „Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte“, bilanzierte Amtsanwältin Maria Siebel nach der Beweisaufnahme. Und da niemand die Taten gesehen habe, blieben die Zweifel. So sah sich das Gericht gezwungen, das Verfahren einzustellen.
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Der Angeklagte und seine Lebensgefährtin, Mutter eines zweijährigen Jungen aus einer früheren Beziehung, kannten sich von früher, trafen sich im Oktober 2021 per Zufall wieder und zogen schon bald zusammen. „Es hat sich gut angefühlt, auch mit Max (Name von der Red. geändert) lief alles super. Er hat mit ihm gespielt und ist mit ihm einkaufen gegangen. Als ich dann schwanger wurde, wurde es immer schwieriger“, sagte die Kindesmutter im Zeugenstand. Denn der kleine Max war kein einfaches Kind, quicklebendig zwar, aber mit Entwicklungsverzögerungen. Er habe ständig versucht, seinen Willen durchzusetzen. „Er hat rumgeschrien und sich auf den Boden gelegt und mit den Füßen getrampelt. Das war mehr Trotz.“
Manchmal habe sich der Junge mehr zu dem Angeklagten hingezogen gefühlt, manchmal zu seiner leiblichen Mutter. Wenn alle drei zusammen war, drehte der Junge völlig auf. Das Paar verabredete eine Art Arbeitsteilung: Der damals arbeitslose Angeklagte übernahm die Mahlzeiten, während die Mutter in einem anderen Zimmer wartete. Der Mann schrieb seiner Lebensgefährtin dann eine WhatsApp-Nachricht, wenn sie wieder ins Zimmer kommen sollte. Die Situation wurde immer belastender. „Die Konstellation zu dritt ging dann gar nicht mehr“, so die Kindesmutter. Anfang Oktober 2022 eskalierte die Lage. Während die Mutter sich im Schlafzimmer aufhielt, war der Angeklagte mit dem Jungen allein in den Wohnräumen. Er sei in der Küche gewesen. „Der Junge ist dann auf das Sofa im Wohnzimmer geklettert, wollte dort aufstehen und ist auf den Tisch gefallen“, erklärte der Angeklagte.
Der Junge wurde in der Kinderklinik behandelt. Dort fielen den Ärzten weitere, ältere Verletzungen auf, unter anderem Bisswunden an den Ohren und größere Blutergüsse an den Oberarmen. „Die Bisswunden und die Verletzungen hat er sich selbst beigebracht, er hatte wöchentlich neue Verletzungen“, erklärte der Angeklagte in der Verhandlung. Die Vorwürfe gegen ihn seien ihm völlig unerklärlich. Die Amtsanwältin äußerte Zweifel: „Am Ohr kann er sich ja nicht selber beißen.“ Der Oberarmbruch sei bei dem Sturz passiert, versicherte der Angeklagte. Sein Verteidiger brachte als Ursache einen weiteren Unfall wenige Tage zuvor ins Spiel. Dabei sei der Junge mit dem Bobby-Car eine fünfstufige Treppe heruntergestürzt.
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Die DRK-Kinderklinik, wo der Oberarmbruch untersucht wurde, schaltete die Behörden wegen Kindeswohlgefährdung ein, „weil der geschilderte Unfallhergang nicht zu den Verletzungen passte“, sagte die vom Jugendamt zugezogene Kinderschutzfachkraft im Zeugenstand. Dies wurde durch ein rechtsmedizinisches Gutachten bestätigt. Die Oberarm-Spiral-Fraktur könne nicht Folge eines Aufpralls gewesen sein.
Die Kindesmutter hatte ihren Lebensgefährten noch bei der Vernehmung nach der Krankenhauseinweisung entlastet. Die Blessuren seien beim gemeinsamen Spielen entstanden, hatte sie erklärt. „Das war die schlimmste Lüge meines Lebens“, sagte sie im Zeugenstand. „Das ist schon komisch, dass Sie so viel zugelassen haben“, so die Amtsanwältin. Offenbar hatten die Großeltern des Jungen schon früher einen Verdacht, hatten die Verletzungen per Fotos dokumentiert. Seine Tochter sei dem Angeklagten hörig gewesen, sagte der Vater der Kindesmutter aus. Andere Zeugen, u. a. die Erzieherin in der Kita, äußerten die Vermutung, der Junge habe zuletzt Angst vor dem Angeklagten gehabt.
Für eine Verurteilung reichten diese Angaben nach Ansicht des Gerichts nicht aus. „Die ganze Beziehung war komisch. Wir können nicht sagen, was passiert ist, wir haben keine Tatzeugen und keinen Tatnachweis“, so Siebel. Deshalb beantragte die Amtsanwältin die Einstellung des Verfahrens. Die Kindesmutter hatte sich nach dem Krankenhausaufenthalt ihres Sohnes von dem Angeklagten getrennt. Der Junge lebte zunächst bei den Großeltern, mittlerweile ist er wieder bei seiner Mutter.