Attendorn. Jens Gerstenberger wird den neuen Adipositas-Fachbereich an der Attendorner Helios-Klinik begleiten. Er kennt das Leiden der Übergewichtigen.
Jens Gerstenberger (56) kennt das Gefühl, der Außenseiter zu sein. Er weiß, wie tief sich Mobbing in die Seele von übergewichtigen Menschen einbrennt. Er kennt das Gefühl von Gewalt, denn er hat all das selbst durchlebt, durchleben müssen. Mit Mitte 20 wiegt der gebürtige Düsseldorfer unglaubliche 206 Kilo! „Ich war das klassische Opfer“, erinnert sich der alleinerziehende Vater eines behinderten Sohnes (8) an früher zurück. Heute, 30 Jahre später, bringt er noch die Hälfte dieses Gewichtes auf die Waage. Der 56-Jährige hat es mit eisernem Willen, dank einer Magen-OP im Herbst 2018 und mit viel Disziplin geschafft, das Leben von damals hinter sich zu lassen.
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Nun will er als Adipositas-Experte, als „trockener Adipöser“, wie er sich selbst nennt, anderen ein Vorbild sein und Patienten auf dem Weg heraus aus der Fettleibigkeit helfen. Aber das ist nur ein Teil seines Aufgabengebiets: Er wird seine Expertise und Erfahrungen in Sachen Ernährung, körperlicher und mentaler Fitness auch in anderen Bereichen, wie zum Beispiel der Rheumatologie oder der Schmerztherapie, an der Attendorner Helios-Klinik einbringen. Patienten gibt es nämlich genug. Statistisch gesehen leidet zwei Prozent der Bevölkerung unter Adipositas – nach dieser Modellrechnung wären im Kreis Olpe rund 2700 Menschen betroffen. Sie kämpfen täglich mit den physischen und psychischen Einschränkungen, sie leiden unter Diabetes, Herzleiden oder Depressionen – und gehen nicht selten daran zugrunde. Doch genau das will Jens Gerstenberger verhindern. Diesen Patienten will er Halt geben, ihnen Hoffnung machen und Wege aufzeigen, damit die Kilos purzeln.
Das beste Vorbild ist er selbst. Um zu verstehen, wie er zum „trockenen Adipösen“ wurde, bedarf es eines Blickes in seine Krankenakte. Nicht nur das „deftige Essen“ daheim sorgt dafür, dass er schon als Kind dick wird. Sondern auch die Tatsache, dass ihm Bewegung schwerfällt, weil er mit zwei halben Kniescheiben zur Welt kommt. Erst Jahre später fällt diese Einschränkung auf, nachdem ihm beim Boxsport die Kniescheibe herausspringt. Ein schmerzhafter Moment. Aber auch einer, der ihm hilft. Denn nach Operationen an beiden Knien geht es bergauf. Ihm wird klar, dass es so nicht mehr weitergehen kann.
Ehrenamtliche Arbeit mit Jugendlichen
Damals, als junger Bursche, ahnt der Rheinländer, der mit seinem schwerkranken Sohn in Lohmar lebt, wohl noch nicht, dass er eines Tages mit der Beratung von Adipositas-Patienten seinen Unterhalt verdient. Zugegeben, der Weg dorthin verläuft nicht geradeaus, der Zufall hat seine Hände im Spiel. Schon früh, im zarten Alter von 14 Jahren, fängt Gerstenberger an, sich ehrenamtlich um Jugendliche zu kümmern. Er hilft in einem Jugendcafé in Düsseldorf, leitet später Jugendprojekte, er gibt Anti-Aggressions-Trainings und leistet Integrationsarbeit bei geflüchteten Kindern. Er besucht Schulen und Jugendeinrichtungen, um dort Präventionskurse zu geben, zunächst „nur“ gegen Gewalt, doch dann auch für übergewichtige Kinder und Jugendliche. Er kennt deren Sorgen, Ängste und Probleme nur zu gut.
Die Arbeit am Menschen leistet er nebenbei, denn hauptberuflich betreibt der Rheinländer zwei Jahrzehnte lang einen Schlosserei-Montagebetrieb. Und zwar so lange – kleiner Zeitsprung – bis er 2010 einen Herzinfarkt erleidet. Ein Freund rät ihm daraufhin, seine Firma zu verkaufen und endlich das zu tun, was seine Bestimmung ist: mit Menschen zu arbeiten, die wie er sind. Adipös. Er entwickelt ein Sportprogramm für übergewichtige Menschen und ist heute unter anderem lizensierter Sporttrainer und Coach.
Acht Jahre später, im Herbst 2018, erlebt er einen weiteren, einschneidenden Moment. Weil alle konservativen Methoden und sämtliche Diäten scheitern, endlich dünner zu werden, unterzieht er sich einer Magen-OP in einem Kölner Krankenhaus. Am Tag der OP wiegt er 180 Kilogramm. Kaum zu glauben: Nach einem intensiven Gespräch mit dem Chefarzt wird Gerstenberger in dieser Klinik anschließend als Adipositas-Koordinator eingestellt – offenbar überzeugt er mit seinen Referenzen. Einen vergleichbaren Job findet er danach in einer Mönchengladbacher Klinik, seit dem 1. Juni dieses Jahres ist er in Attendorn als psychologischer Berater und Fachmann für Ernährungsfragen angestellt.
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Hier ist er wichtiger Ansprechpartner von Dr. Stefan Bollmann. Der erfahrene Mediziner betont: „Mein Team und ich wollen endlich auch den Menschen hier ein angemessenes und heimatnahes Therapieangebot machen und führen alle gängigen Operationsverfahren durch, mit denen wir den Grundstein für ein buchstäblich neues Leben der Betroffenen setzen wollen.“ Doch es geht nicht nur um chirurgische Eingriffe, sondern auch um konservative Methoden, sprich Beratungen, um die sich vor allem Jens Gerstenberger kümmern wird. Mit seinem Wissen, mit seinem Netzwerk, mit seiner Vergangenheit oder einer Adipositas-Hotline im Attendorner Krankenhaus, die gerade ihre Arbeit aufgenommen hat. Sie soll helfen. Und zwar all denjenigen, denen es heute so geht wie ihm früher. Denn er kennt das Gefühl, der Außenseiter zu sein. Er weiß, was adipöse Menschen durchmachen. Er selbst wog mehr als 200 Kilogramm. Er hat es geschafft, dieser Welt zu entkommen.