Herdecke. Die Zahl der Geburten in Herdecke geht zurück. Plötzlich wird nicht mehr so viel Betreuung gebraucht. Ein Angebot leidet darunter besonders.
Fünf Hochstühle stehen um den langen Tisch von Anja Müller herum. Am Vormittag waren sie alle besetzt. Mehr als fünf Kinder darf eine einzelne Tagesmutter nicht betreuen. Immer häufiger bleiben bei den Kolleginnen und einem Tagesvater einzelne Stühle leer. Anja Müller hat Glück gehabt: Durch einen Nachrücker wurde ihre Kinderrunde doch noch komplett. Dauerhaft unbesetzte Stühlchen werden schnell zum Existenzproblem.
Zu Irene Forsch kommen jeden Morgen zwei Kinder, ab November werden es drei sein, ab dem neuen Jahr dann vier. Die stockende Belegung ist neu. „Wir hatten immer Wartelisten“, erinnert sich die Tagesmutter, und Anja Müller ergänzt: „Wir waren ja alle voll bis vor zwei Jahren.“ Ohne Vorwarnung sei dieser Einbruch gekommen. „Ich dachte, das ginge immer so weiter“, sagt Anja Müller. Und dann fallen ihr doch ein paar Alarmzeichen ein.
Die ersten Tageseltern haben aufgehört
Anja Müller ist Vorsitzende des Vereins Kindertagespflege Herdecke, Irene Forsch zählt zum Vorstand. Seit vier Jahren gibt es den Verein, rund zwei Dutzend Tagesmütter und ein Tagesvater gehören ihm an. „Von uns haben schon drei aufgehört“, bilanziert Anja Müller für die letzten Monate. Gerade wenn für die Kinderbetreuung Räume angemietet werden, geht die Kalkulation schnell nicht mehr auf. „Bei einem Kind weniger wird es dann schnell eng“, weiß die Vereinsvorsitzende.
23 Jahre ist Anja Müller im Geschäft. In dieser Zeit gab es immer mal wieder Schwankungen und die normale Angst, ob auch alles wieder ins Lot kommen wird. Dann kam Corona, und auch die Betreuung bei Tageseltern war vorübergehend blockiert. Seitdem aber waren die kleinen Gruppen am Tisch oder in den Spielzimmern immer voll, sagt Irene Forsch. Mit den schleppenden Anmeldungen aber nisten sich existenzielle Ängste ein, berichtet Anja Müller.
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Jahrelang überstieg der Betreuungsbedarf für die Jüngsten in Herdecke die Zahl der Betreuungsplätze. Die Stadt Herdecke bestätigt: „Es ist richtig, dass die Geburten in den vergangenen Jahren zurückgegangen und sich die Plätze im U3-Bereich in Kita und Tagespflege kontinuierlich erhöht haben.“ Die Kindergärten konnten den Rückgang bei den Geburten abfedern, indem Überbelegungen abgebaut wurden. Freie U3-Plätze gibt es hier weiterhin nicht. Anders bei den Tagespflegeeltern.
Auch Kindergärten rechnen sich für die Betreiber nur, wenn die Auslastung stimmt. Die Furcht von Anja Müller und Irene Forsch ist groß, es könne zu einem Verdrängungswettbewerb kommen mit den Tageseltern als Verlierern. Die Stadt sieht sich dabei erklärtermaßen in einer neutralen Rolle. Aus Sicht des Jugendamtes sei die Tagespflege ein gleichberechtigtes Betreuungsangebot neben dem Angebot der Kitas. Maßgeblich sei aber am Ende das Wunsch- und Wahlrecht der Eltern.
Trotzdem setzt der Verein Kindertagespflege Hoffnungen in die Verwaltung. Eine gemeinsame Infobörse für interessierte Eltern zu Beginn des Jahres war ein voller Erfolg, eine Nachfolgeveranstaltung vor wenigen Wochen dagegen traf auf wenig Interesse. Wohl der falsche Zeitpunkt, so die Schlussfolgerung von Anja Müller. Bei der Februarveranstaltung soll es bleiben. Verbessert werden könnte aus ihrer Sicht die Auffindbarkeit der Betreuung durch Tagesmütter und Väter auf dem Internetportal der Stadt. Weiter oben und direkter zu den Angeboten führend sollten die Einträge sein, so der Wunsch.
Ein Netzwerk für den Krankheitsfall
Auch in Richtung Kindergärten haben die beiden Vertreterinnen der Herdecker Tageseltern einen Wunsch. Diese sollten nicht Vorzüge für sich reklamieren, auf die Tageseltern wenigstens mit dem gleichen Recht verweisen könnten. Beispiel: Krankheitsfall. Kindergärten würden gerne herausstellen, dass sie bei kranken Mitarbeitern die Last verteilen und betriebsfähig bleiben könnten. Dabei hätten auch die Tageseltern in ihrem Netzwerk Ausweichmöglichkeiten, und so mancher Stuhl werde extra frei gehalten, dass bei einer erkrankten Tagesmutter ein Kind trotzdem bei einer anderen Tagesmutter betreut werden könne.
Die sinkende Nachfrage für die Kleinstgruppenbetreuung erschüttert die Tageseltern auch, weil sie von ihrem Angebot so überzeugt sind. „Die kleinen Mäuse brauchen ganz viel Liebe“, sagt Irene Forsch und sieht hier einen besonderen Vorteil der überschaubaren Runden. Anja Müller spricht von der „kuscheligen Betreuung“, die Eltern und Tageseltern wechselseitig zusammenrücken lasse und gerade den Jüngsten die ersten Absprünge von Zuhause erleichtern würde.
Anja Müller weiß: Die Tageseltern müssen wahrgenommen werden, um ihre Angebote ausreichend an Väter und Mütter bringen zu können. Die wiederum können auch etwas tun: Besonders wirksam, so die Erfahrung, sei deren Mund-zu-Mund-Propaganda.