Hagen. Prof. Dr. Rainer Stamm ist Direktor des Osthaus-Museums Hagen. Er gibt Einblicke in das geheime Depot und die wertvolle Sammlung des Museums.

Zunächst: Der diesen Raum betritt, kann keine künstlerische Einordnung vornehmen. Keine Bewertung, keine Analyse, kein Urteil. Der, der dieses Reich betritt, kann nur vom Zauber einer Sammlung erzählen, die trotz aller Stille hier aus allen Fächern, Regalen und Boxen ihre Bedeutung herausschreit. Ein anfassbares Vermächtnis ihrer Meister. Ein oft letzter, künstlerischer Gruß aus dem Jenseits.

Wir befinden uns in Hagens wohl wertvollster Schatzkammer. Dem geheimen Depot des Osthaus-Museums. Der neue Direktor Rainer Stamm hat uns hinein gelassen.

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Was tun mit Kunst, die in der Nazi-Zeit nicht als entartet galt und heute im Depot lagert? So wie diese Plastik einer Nackten von Grete Hartje-Coers. Gefertigt 1940, in Bronze gegossen 1950. © WP | Michael Kleinrensing

Ewald Mataré hat jenen Brunnen geschaffen, den die Menschen in Hagen zur Ortsmarke gemacht haben. „Wir treffen uns am Mataré-Brunnen.“ Sagt man ja so. Er stand mal dort, wo es heute zur Drogerie Müller in der Innenstadt hineingeht. 1967 eingeweiht. Im Zuge des City-Umbaus wurde er verpflanzt, steht heute vor Sinn. Der Brunnen symbolisiert mit seinen Wasserspeiern die vier Flüsse, die Hagen durchfließen. Über seinem großen Becken eine Kaskade, die die Wassereinspeisung der Hasper Talsperre symbolisiert.

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Walther Böttichers Glasbild „Elias im feurigen Wagen“. © WP | Michael Kleinrensing

Kühe von Ewald Mataré

Hier, im Depot des Osthaus-Museums, liegen Kühe im Regal, die Matarés Signatur tragen. Der Medailleur und Bildhauer schuf über 600 solcher Plastiken. Stilisierte Tierskulpturen und sakrale Auftragsarbeiten. Die dicken, schwarzen Kühe hier gehören dazu. Der Brunnen in der Innenstadt gehörte zu den letzten Auftragsarbeiten des 1965 verstorbenen Künstlers.

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Johan Thorn Prikkers, Lautenspielerin aus dem Jahr 1914. Ein Probemosaik für den ehemaligen Kammermusiksaal der Stadthalle Hagen. © WP | Michael Kleinrensing

20 Grad, 50 Prozent Luftfeuchtigkeit

Der Laie ist schnell beim Geld. Wieviel Wert schlummert hier unten, wo die Raumtemperatur immer 20 Grad und die Luftfeuchtigkeit 50 Prozent beträgt? Wo Direktor Rainer Stamm mit einem weißen Stoffhandschuh so sorgsam vorgeht, wie Howard Carter es wohl gemacht hat, als er im November 1922 die Grabkammer von Tutanchamun fand. Der Besucher bleibt ehrfürchtig einen Schritt zurück. Nichts soll umfallen, nichts beschädigt werden.

Das Geld ist kein großes Thema

Rainer Stamm wischt die Geld-Frage schnell hinfort. Klar, hier lagern Millionen. Etliche Millionen. Aber das ist irgendwie auch eine Währung, die nie getauscht werden wird. So wie einer seine einzigartige Villa am See wohl nicht verkaufen wird, weil er da draußen ohnehin keine bessere für das Geld bekommt. Vielmehr noch als das Geld aber wiegt die Bedeutungskraft, der künstlerisch-ideelle Wert. Das, was Tausende Besucher in europäische Museen zog, als Hagen zum Beispiel seine einmalige Expressionisten-Sammlung auf Reisen schickte. Der Zauber der Einzigartigkeit.

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Kuh-Skulpturen von Ewald Mataré, der den gleichnamigen Brunnen in der Innenstadt schuf. © WP | Michael Kleinrensing

Osthaus als Gründer der gesamten Sammlung

Rainer Stamm zieht ein meterhohes Gitterregal aus seinen eisernen Führungspfosten. Ein Porträt von Karl-Ernst-Osthaus kommt zum Vorschein. Mannshoch. Osthaus sitzt in einem Ledersessel, die Beine übereinandergeschlagen, die Finger der Hände verschränkt. Denkend, zuhörend, analysierend wirkt er. Der Maler Bernhard Pankok schuf dieses Öl-Bildnis 1918. Drei Jahre später schon sollte Osthaus, der Mäzen, Gönner und Sammler, der Gründer des Folkwang-Museums, auf den die ursprüngliche Sammlung zurückgeht, in Meran an den Folgen einer Tuberkulose sterben.

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Rainer Stamm würde nach eigener Aussage gern den ganzen Tag im Depot verbringen. Für ihn ist dies die eindrucksvollste Sammlung, die er je geführt hat. © WP | Michael Kleinrensing

Ja, was sucht man denn?

Er blickt, als wollte er fragen: „Was suchst du?“ Ja, was sucht man hier, wo es duftet wie nach einer Mischung aus Pergament, Holz, Beton und Farbe? Diesen einen Schatz unter all diesen Schätzen? Die „Künstlergruppe“ von Ernst Ludwig Kirchner, die das Museum besitzt, ist Millionen wert beispielsweise. Aber hier lagern 1000 Werke der Malerei, knapp 800 Plastiken und Skulpturen sowie circa 250 Künstler-Objekte. Hinzu kommen über 5000 Arbeiten auf Papier, nahezu 700 Arbeiten angewandter Kunst, über 100 Installationen sowie ca. 2000 Mappen, Bücher und Objektkästen. Und jedes Teil, das Rainer Stamm enthüllt, jedes Werk, das er hervorholt, transportiert den Gedanken mit, dass sein Erschaffer einst selbst stunden- und tagelang davor stand und daran arbeitete.

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Jedes einzelne Objekt der Sammlung ist registriert und beschriftet. © WP | Michael Kleinrensing

Was tun mit nicht-entarteter Kunst?

Walther Böttichers Glasbild „Elias im feurigen Wagen“ ist so ein Beispiel dafür. Natürlich auch Karl Schmidt-Rottluffs „Boote am Wasser“. Es stehen aber auch Möbelstücke hier, es gibt noch ein Grafik-Depot, Skulpturen, Plastisches. Und Kunst, mit der sich viele Museen schwertun. Jene, die zur NS-Zeit entstand und von den Nazis nicht als entartet gebrandmarkt wurde. Die Plastik einer Nackten von Grete Hartje-Coers gehört dazu. Sie entstand 1940/41, wurde 1950 aber erst in Bronze gegossen. Was machen Museen damit? Ausstellen? Im Depot lassen? Der Gips dazu wurde 1943 auf der „VI. Großen sauerländischen Ausstellung“ des Gaus Westfalen-Süd im Osthaus-Museum Hagen (damals in der Villa Post) gezeigt.

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Aliens neben Malerei: Ein obskurer Anblick im Hagener Depot. © WP | Michael Kleinrensing

Rohlfs galt als „entartet“

Was macht vor allem ein Museum damit, das ja Christian Rohlfs auch ganz besonders würdigt, der von den Nazis fast zur gleichen Zeit ein Malverbot erhielt. Für die Ausstellung „Entartete Kunst“ 1937 in München wurden Rohlfs-Arbeiten einkassiert. Aus dem einstigen Christian-Rohlfs-Museum (heute Osthaus-Museum) 450 Stück. Aus Arbeiten des Hagener Chef-Historikers Ralf Blank geht hervor, dass Reichspropagandaminister Joseph Goebbels 1937 mit dem Hagener OB und Gauleiter Heinrich Vetter über Rohlfs sprach: „Er wollte Rohlfs in Schutz nehmen. Aber ich heile ihn.“

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Circa 2000 Mappen, Bücher und Objektkästen lagern im Depot. © WP | Michael Kleinrensing

Rainer Stamm könnte nach eigener Aussage den ganzen Tag an diesem magischen Ort zubringen, Kunst begutachten, sichten und sich fragen, was man in der Ausstellung präsentieren könnte. „Doch zwischen Forschen, Verwalten und dem Depot muss man sich seine Zeit gut aufteilen.“

„Zwischen Forschen, Verwalten und dem Depot muss man sich seine Zeit gut aufteilen“

Prof. Dr. Rainer Stamm
Osthaus Museum

Herta Hesse-Frielinghaus, die das Museum zwischen 1945 und 1975 30 Jahre lang leitete, gelang es nach dem Krieg und dem Verschwinden zahlreicher Werke wieder eine starke Sammlung aufzubauen. Ein Großteil dessen, was in den nur für wenige Mitarbeiter zugänglichen Depoträumen lagert, ist ihrem Wirken und Ankaufen zu verdanken.