Ennepetal. Lehrerin Liudmyla Zeltenova und ihr Sohn Andrij aus der Ukraine haben in Ennepetal Zuflucht gefunden. Von dort gibt sie weiter Unterricht.

Liudmyla Zeltenova (49) sitzt an einem Schreibtisch, einen Stift in der Hand und unterrichtet Schüler und Schülerinnen des Lyzeums der Stadt Wyschnewe nahe Kiew. Die Klassenlehrerin hat ihren Arbeitsplatz mehr als 1600 Kilometer von ihrer Schule entfernt in der Schmiedestraße in Ennepetal-Altenvoerde. Dort hat sie auch mit ihrem 14-jährigen Sohn Andrij ein vorübergehendes Zuhause gefunden: bei der Familie Kruzycki. Mutter und Sohn sind nach ihrer Flucht aus der von Russland mit Krieg überzogenen Ukraine von Hanna und Roman Kruzycki herzlich aufgenommen worden. Man speist meist gemeinsam und verständigt sich in der polnischen Sprache.

Morgens um 8 Uhr beginnt der Unterricht mit dem Zoom-Programm am Computer. Zugeschaltet sind die jungen Leute aus der „Elften“, aber nur sechs von ihnen befinden sich – wenn alles gut geht – in der Schule. Zwölf weitere halten sich irgendwo in der Ukraine auf und zehn leben derzeit im Ausland, das heißt in den verschiedensten europäischen Staaten.

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Sie sind vor russischen Bomben und Terror geflüchtet. Nicht immer geht alles gut für die Schüler, die sich in der Ukraine befinden. Es herrscht Krieg mit all seinen Grausamkeiten. Wer die Nacht bei Luftangriffen in Bunkern und Kellern verbringen muss, der kann am anderen Morgen kaum am Unterricht teilnehmen. „Sie melden sich dann ab“, sagt Liudmyla Zeltenova verständnisvoll. Sie weiß, dass die jungen Menschen in der Ukraine in einer äußerst schwierigen Situation leben mit dem „Ungeheuer Krieg“, wie es Hanna Kruzycki übersetzt, und mit der unbeantworteten Frage: Wie kann es mit ihren Abschlüssen weiter gehen?

Ein Klassenfoto aus Kiew, das vor dem Krieg entstanden ist, zeigt Liudmyla Zeltenova (Zehnte von links) inmitten ihrer Schüler.
Ein Klassenfoto aus Kiew, das vor dem Krieg entstanden ist, zeigt Liudmyla Zeltenova (Zehnte von links) inmitten ihrer Schüler. © WP | Privat

Lehrerin Zeltenova und ihr Sohn haben selbst bei ihrer Flucht aus Wyschnewe in eine kleine Stadt auf dem Land Schreckliches gesehen. Sie wollten der ständigen Bedrohung durch die Russen im Bereich Kiew entkommen und gerieten dann in der Zufluchtsstadt in der Provinz genau in den Krieg. „Russische Panzer kamen. Es war schrecklich“, erzählt sie. „Wir haben in einem Keller ausgeharrt. Ganz schlimm war es für meinen Sohn“. Die beiden waren nicht allein auf der Flucht. „Meine sich jetzt im Ruhestand befindliche Kollegin – ich bin mit ihr lange befreundet – war bei uns!“ Die gemeinsame Flucht führte weiter über Moldau und Ungarn bis nach Ennepetal. Das hatte seinen Grund: „Die Tochter meiner Kollegin im Ruhestand lebt seit 15 Jahren in Ennepetal und ist die Lebensgefährtin des Unternehmensberaters Joachim Gramsch.“

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Es ist Nachmittag: Die Haustürklingel geht bei den Kruzyckis. Andrij steht vor der Tür. Er hatte einen langen Schultag am Reichenbach-Gymnasium: „Guten Tag“, sagt er auf deutsch. Dann weiter in ukrainischer Sprache: „Die Lehrer sind hier nicht so autoritär wie in der Ukraine.“ Der Sohn schaut seine Mutter an und ergänzt mit liebevollem Gesichtsausdruck: „Du bist auch nicht autoritär.“

Liudmyla Zelenova unterrichtet neben ihrer Klassenlehrer-Tätigkeit ukrainische Sprache und Literatur. Sie sagt: „Gerade in diesen Zeiten ist es wichtig, die ukrainische Kultur schätzen zu lernen. Sie darf nicht verloren gehen.“ Als Klassenlehrerin schickt sie ihren Schülerinnen und Schülern per Internet den Stundenplan der Woche. Sie erfahren auch die Themen, damit sie sich vorbereiten können. „Auch wenn die jungen Leute fast in ganz Europa verstreut leben, müssen sie Arbeiten schreiben und Hausaufgaben erledigen.“ Im Hause Kruzycki in der Schmiedestraße werden sie dann von Liudmyla Zelenova benotet. „Die Eltern können jederzeit die Benotung ihrer Kinder im Programm erfahren, und auch der Schulleiter kann sich einschalten“, erzählt die Lehrerin. Sie führt auch persönliche Gespräche von Angesicht zu Angesicht mit den ihr anvertrauten Jugendlichen. Dabei gehe es nicht nur um Leistungen in der Schule.

Liudmyla Zeltenova und ihr Sohn Andrij mit Hanna und Roman Kruzycki (von rechts).
Liudmyla Zeltenova und ihr Sohn Andrij mit Hanna und Roman Kruzycki (von rechts). © WP | Hans-Jochem Schulte

Seit dem 24. März leben Mutter und Sohn bei Hanna und Roman Kruzycki. Die Stadt Ennepetal will den Geflüchteten eine kleine eigene Wohnung an der Mittelstraße zur Verfügung stellen. „Schon vor 14 Tagen sollte sie eingerichtet werden“, weiß Roman Kruzycki. Noch scheint nichts fertig zu sein. „Unsere Nachbarn in der Schmiedestraße haben großes Verständnis für unsere Gäste. Einige haben für sie sogar Geld gespendet.“ Im Gespräch mit dieser Zeitung danken Mutter und Sohn für die freundliche Aufnahme. „Wir sind einfach nur dankbar und froh, hier ohne Angst leben zu können.“ Sie besuchten schon das Klutertbad und das Hülsenbecker Tal. Lehrerin Zelenova ist in der Klutertstadt selbst Schülerin, lernt Deutsch im Haus Ennepetal.

Als das Grauen in der Ukraine bekannt wurde, war es für das Ehepaar Kruzycki klar: „Wir nehmen geflüchtete Menschen auf“. Sie meldeten sich bei der Stadt, aber es kam in zweieinhalb Wochen keine Antwort, so Roman Kruzyki. Der Arzt im Ruhestand erzählte dem Altenvoerder Rolf Zimmermann davon. Zimmermann wiederum hatte von seiner Tochter von Joachim Gramsch erfahren. Einen Tag später meldete sich Joachim Gramsch, bei dem die Lehrerin Liudmyla Zelenova und ihr Sohn Andrij zunächst eine Bleibe gefunden hatten, bei Familie Kruzycki. Die alte Kollegin der ukrainischen Lehrerin, die mit auf der Flucht vor den Schrecken des Krieges war, lebt jetzt mit im Hause Gramsch bei ihrer Tochter.