Essen/Neuss. Mobbing und Gewalt haben laut einer Studie an NRW-Schulen zugenommen. Wie Schüler und Lehrer dagegen vorgehen – und was sich ändern muss.
Häufig passiert es dort, wo Lehrkräfte wie Mirco Lange keine Kontrolle haben. Dort, wo die Kinder und Jugendlichen sich selbst überlassen sind. An der Bushaltestelle, auf dem Schulweg oder im Internet: Gewalt und Mobbing unter Schülerinnen und Schülern wird zu einem immer größeren Problem an Schulen, zeigt eine neue Studie.
Mirco Lange unterrichtet Englisch und Philosophie an der Gesamtschule Norf in Neuss. Er beschreibt den Standort als „durchmischt“, die Schülerinnen und Schüler haben verschiedene soziale Hintergründe. Vor allem in den sozialen Medien finde häufig Mobbing statt. „Die Drohungen, die Schüler gegenüber einem Mitschüler dort aussprechen, wie etwa: ‚Wir warten an der Bushaltestelle auf dich‘ oder ‚Morgen bringe ich meine Geschwister mit‘, werden im Schulalltag allerdings dann oft Wirklichkeit“, sagt Lange.
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Mit seinen Beobachtungen ist der Lehrer nicht alleine. Mehr als die Hälfte der Lehrerinnen und Lehrer hat den Eindruck, dass psychische Gewalt vor allem seit der Corona-Pandemie zugenommen hat. So beobachtet jede dritte Lehrkraft mittlerweile häufig Mobbing, 44 Prozent sehen sogar eine Zunahme von körperlicher Gewalt. Das zeigt eine neue repräsentative Umfrage der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV). Als Ursachen werden insbesondere der Konsum von „problematischen Medien“ und persönliche Faktoren wie mangelnde Empathie, fehlende Sozial- und Konfliktlösungskompetenz sowie falsche Erziehung gesehen.
Mobbing verlagert sich auf Social Media
„Dadurch, dass sich das Mobbing zunehmend in Klassenchats oder die sozialen Netzwerke verlagert hat, wird es für uns Lehrkräfte immer schwieriger einzugreifen“, sagt Mirco Lange. Für seine Schülerinnen und Schüler möchte er dennoch da sein, ein offenes Ohr für sie haben. So komme es in den Pausen nicht selten vor, dass er mit einem Stapel Klausuren in der einen, Unterrichtsmaterialien für die nächste Stunde in der anderen Hand, Schüler auf dem Flur bei Konflikten berät. „Das erhöht allerdings den Druck auf die wegen Personalmangels ohnehin schon belasteten Lehrkräfte“, sagt Lange.
Viele Jugendliche wendeten sich allerdings lieber an Gleichaltrige, fühlten sich von ihnen mehr verstanden als von einem Lehrer. An der Gesamtschule Norf gibt es deshalb sogenannte Medienscouts. Das sind Schülerinnen und Schüler, die in die Klassen gehen, um über Mobbing aufzuklären. Sie geben etwa Workshops mit Fallbeispielen und erläutern die Gefahren von Social Media. Zudem sind sie Ansprechpartner für Betroffene.
„Ich finde es schrecklich, was anderen Kinder angetan wird“
Zwei von ihnen sind Lara Büsges (18) und Chantale Veiser (19). Beide besuchen die 13. Klasse und helfen seit sieben Jahren ihren Mitschülerinnen und Mitschülern bei Problemen mit Mobbing. Chantale Veiser wurde früher selbst gemobbt. „Ich finde es schrecklich mitzubekommen, was anderen Kindern angetan wird“, sagt sie. Ihr ist wichtig, für Betroffene da zu sein und ihnen zuzuhören. „Ich hätte mir früher selbst jemanden gewünscht, an den ich mich wenden kann und der mich versteht.“
Social Media nehme immer mehr Raum im Leben der Schülerinnen und Schüler ein. „Früher hatten wir in der siebten Klasse das erste Handy, heute fängt es teils schon in der vierten Klasse an“, beobachtet Lara Büsges. Über die Gefahren wüssten allerdings die wenigsten Bescheid. Und mit KI werde alles noch gefährlicher.
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„Oft werden Kinder schon gemobbt, wenn sie einen TikTok-Tanz nicht richtig beherrschen. Oder wenn sie nicht so aussehen, wie es der Social-Media-Trend und Influencer vorgeben“, erklärt Büsges. Dann würden etwa Zettelchen mit Witzen über die Person herumgereicht, Nachrichten und Bilder auf dem Handy gezeigt oder Beleidigungen direkt an die Tafel geschrieben.
Chantale Veiser erinnert sich an ein Schulkind, von dem ein „unvorteilhaftes Foto“ als „Sticker“ in einer Klassenchatgruppe kursierte, inklusive massiver Beleidigungen. „Das Kind hat sich daraufhin isoliert und aus der Klassengemeinschaft zurückgezogen.“
Lehrer: „Es braucht mehr Sozialarbeiter“
Einmal machten die beiden Schülerinnen mit einer siebten Klasse eine Übung. Alle sollten ihre Köpfe auf die Tische legen und den Daumen nach oben zeigen, wenn sie schon einmal Opfer von Mobbing geworden sind. „Fast die ganze Klasse hat aufgezeigt“, erinnert sich Lara Büsges. „Das hat uns das Ausmaß von Gewalt und Mobbing, gerade im Netz, noch einmal ganz anders deutlich gemacht.“
Lehrer Mirco Lange fordert deshalb mehr Personal. Von 1200 Lehrkräften habe die Schule gerade einmal vier Stellen für Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Von ihnen brauche es deutlich mehr. Die Schülerinnen und Schüler könnten das nicht abfangen, auch, wenn das Projekt Medienscouts sehr helfe. „Jetzt ist die Politik gefordert, dem Mobbing an den Schulen mit aller Kraft entgegenzugehen.“
Info Medienscouts: Gemeinsam mit dem NRW-Schulministerium möchte die Landesanstalt für Medien NRW das Angebot perspektivisch weiter ausbauen. Bisher wurden an über 1000 Schulen mehr als 7300 Schülerinnen und Schüler als Medienscouts qualifiziert und rund 3100 Beratungsfachkräfte ausgebildet.
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