Bochum. Ein Bochumer Verein schult Mitarbeiter von Flüchtlingsheimen. Das Ziel: Islamisten früh zu erkennen und zu „deradikalisieren“.
Wie erkennt man einen Islamisten? Wie „deradikalisiert“ man diese Person dann. Oder noch besser: Wie verhindert man, dass Menschen überhaupt erst abdriften in Extremismus.
„Man erkennt einen Islamisten nicht in fünf Sekunden“, sagt Alexander Gesing. Und er muss es wissen; es ist sein Beruf, gefährdete Menschen zu identifizieren. Gesing und seine Kollegen beim Beratungsnetzwerk Grenzgänger arbeiten mit den Betroffenen – und wenn sie nicht wollen, auch nur mit ihrem Umfeld. Immer geht es darum, ihnen Alternativen anzubieten. Grenzgänger, selbst ein Projekt des Bochumer Hilfsvereins IFAK, schult auch die Mitarbeiter von Flüchtlingsunterkünften – und bietet so ein Frühwarnsystem für Islamismus.
Besucht er eine problematische Moschee?
Ein klassischer Fall: Die Leiterin einer Flüchtlingsunterkunft des Landes ruft an. (Nur in diesen ist Grenzgänger mit seinem Programm Aufwind präsent, gefördert durch das NRW-Flüchtlingsministerium und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. In den städtischen Heimen erfüllt das landeseigene Projekt „Wegweiser“ eine ähnliche Funktion.) Einer Bewohnerin ist ein Nachbar aufgefallen, der aggressiv missioniert. Er teilt die Mitbewohner in Gläubige und Ungläubige ein. Im Gebetsraum will er anderen vorschreiben, wie sie zu beten haben. Die Leiterin hat nachgeforscht und festgestellt: Er fährt regelmäßig in die Nachbargemeinde. Die Polizei hat ihr bestätigt, dass es dort eine problematische Moschee gibt.
„Wie bei den Rechtsradikalen hat man oft ein bestimmtes Bild im Kopf, wie ein Islamist aussehen könnte. Aber das Äußere spiegelt selten das Innere.“
„Wie bei den Rechtsradikalen hat man oft ein bestimmtes Bild im Kopf, wie ein Islamist aussehen könnte. Aber ein Bart oder weite Kleidung sind nicht unbedingt gute Hinweise“, sagt Gesing. „Das Äußere spiegelt selten das Innere. Am besten bekommt man Hinweise, wenn man mit dem Menschen ins Gespräch geht, nicht konfrontativ, sondern erstmal neutral.“
Alexander Gesing oder seine Kolleginnen fahren also hin, sprechen mit dem Umfeld des Mannes. „Und wenn es möglich ist, auch mit ihm selbst.“ Welche Perspektiven sieht die Person für sich? Hat sie sich einen Lebensplan gemacht für Deutschland? Mit welchen Personen hatte sie Kontakt – womöglich aus dem Umfeld problematischer Moscheen? Auch mit dem Umfeld des Betroffenen sprechen die Berater von Grenzgänger. Gibt es Familie, Freunde, ist es ein „gefestigter Typ“. Ist derjenige traumatisiert von Krieg oder Flucht? „In der Gesamtschau kommt man zu einer Einschätzung.“
Das Programm ist freiwillig
Allerdings ist eine Mehrheit der Betroffenen nicht gesprächsbereit. „Unser Programm ist freiwillig“, sagt Gesing. „Und die Gespräche sind vertraulich. Nur wenn Straftaten angekündigt werden, wird die Polizei informiert. Auch die Einstufung als Gefährder ist allein Sache der Sicherheitsbehörden. Zieht eine Person um, ist es ebenfalls nicht an den Sozialarbeitern, die neue Einrichtung zu warnen, das kann allerdings die Leitung des Hauses tun. Ähnlich sieht es aus, wenn jemand eine Wohnung bekommt. Ist er oder sie nicht am Kontakt interessiert, gibt es auch keinen mehr.
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Dass die meisten Flüchtlinge schon mit einem „gefestigten islamistischen Weltbild“ nach Deutschland kämen, sei ein Klischee. „Das ist einfach nicht so“, sagt Alexander Gesing. „Meistens passiert die Radikalisierung hier.“ So sei es auch bei Anis Amri gewesen, dem Attentäter vom Berliner Weihnachtsmarkt. „Er hat sich schrittweise in die Szene hineinbegeben.“
Gäbe es die Beratung nicht ...
Natürlich gebe es kulturelle Unterschiede, auch wer auf Ablehnung stoße oder schwierige Erlebnisse hatte, sei womöglich empfänglicher für das islamistische Narrativ. Andere würden sich so intensiv mit Religion beschäftigen, dass sie selbst zu der Einsicht kämen, dass der Islamismus dieser zuwiderläuft. „Wir arbeiten nicht gegen die Religion“, erklärt Gesing. Wie man gelebten Glauben und Extremismus auseinanderhält, ist wichtiger Bestandteil der Aufwind-Schulungen.
So findet die Polizei Gefährder
So identifiziert die Polizei Gefährder: mit einer riesigen Excel-Tabelle. Darauf beruht das System RADAR-iTE, das ab 2015 vom Bundeskriminalamt mit der Uni Konstanz entwickelt wurde und 2017 zum Einsatz kam – nach dem Attentat von Anis Amri in Berlin. „iTE“ steht dabei für islamistischer Terrorismus.
Grob gesagt fließen in die Datensammlung alle von der Polizei erfassten Ereignisse ein, die auf einen islamistischen Hintergrund hinweisen und einer Person zugeordnet werden können. Ebenso Informationen von Nachrichtendiensten. All diese Daten werden keineswegs von einer KI ausgewertet, sondern bewertet und eben mit einer Exceltabelle addiert.
Ende 2022 startete das Schwestersystem Radar-rechts. Ziel sind rechtsradikale Gefährder.
„Sehr viele Faktoren spielen eine Rolle“, sagt Gesing, und nur ein winziger Prozentsatz der Menschen falle am Ende extremistisch auf. „Die Diskussion wird so vielen nicht gerecht, die genau vor islamistischem Terror hierhin geflüchtet sind.“ Dennoch: Gäbe es die Beratung von Grenzgänger, Wegweiser & Co. nicht, glaubt Gesing, würden deutlich mehr Menschen dem islamistischen Narrativ folgen. Zahlen zu Verdachtsfällen nennt der Verein auf Nachfrage nicht. „Aber unsere Arbeit trifft definitiv auf Bedarf“, sagt Gesing. Momentan arbeiten zehn Personen im Projekt Aufwind, sowohl in der Beratung als auch in der Schulung.
Aber wie „deradikalisiert“ man einen Menschen? „Im Radikalismus geht es um Bedürfnisbefriedigung“, sagt Gesing. Und für diese Bedürfnisse müsse man Ersatz bieten. Soziale Anerkennung und Einsamkeit: Gibt es vielleicht ein Fußballangebot? Kann sich eine Person aus der Einrichtung kümmern? Kann eine Ausbildung einen persönlichen Erfolg darstellen? „Manche wollen auch Vorbild sein, suchen nach einer höheren Position. Es ist eine Herausforderung sowas zu finden.“ Letztlich ähnelt diese Art der Sozialarbeit der mit kriminellen Jugendlichen.