Hohenlimburg. Warum starb vor 12.000 Jahren ein Kind vor der Blätterhöhle? Wurde der Leichnam abgelegt? Archäologen sprechen von einem Sensationsfund in Hagen.
Bei den jüngsten Ausgrabungen an der Blätterhöhle in Hohenlimburg sind Archäologen des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) auf den Unterkiefer eines siebenjährigen Kindes gestoßen, das vor etwa 12.000 Jahren im Bereich der Hünenpforte gelebt haben muss. Auch einige Zähne des Steinzeitkindes waren noch vorhanden, zudem fanden die Wissenschaftler den abgenutzten Zahn des Erwachsenen.
Ob die beiden Urmenschen miteinander verwandt waren, lasse sich (noch) nicht mit Bestimmtheit sagen, erklärte der Archäologe Dr. Jörg Orschiedt: „Dazu war die DNA zu stark degeneriert.“ Aber es werde weiter geforscht, und vielleicht fänden sich ja demnächst weitere Knochenfragmente des Kindes mit besser erhaltenem Erbgut.
Unter Wissenschaftlern gilt die Entdeckung als Sensation. Barbara Rüschoff-Parzinger, Kulturdezernentin des Landschaftsverbandes und selbst Archäologin, nannte den Knochenfund „absolut spektakulär“. Schließlich handele es sich um die ältesten Überreste des modernen Menschen (Homo sapiens) in ganz Nordrhein-Westfalen.
Verlust des Zeitgefühls in der Stille
Die Blätterhöhle hat sich in den vergangenen 20 Jahren zu einem der wichtigsten Fundorte für Anthropologen (Menschenkundler) und Archäologen in Deutschland entwickelt. Anders als die meisten anderen Höhlen in Westfalen wurde sie – was an ihrer Unscheinbarkeit liegen mag – im Laufe der Jahrtausende nicht leergeräumt, die Sedimente nicht als Dünger für Ackerflächen verwendet.
Vielmehr können die Wissenschaftler bei ihren Ausgrabungen die einzelnen Sedimentschichten nach und nach systematisch abtragen, was den jüngsten Fund des kindlichen Kiefers erst möglich gemacht hat. Bei der Arbeit in der engen Höhle könne man jedes Zeitgefühl verlieren, so Orschiedt: „Man hört auch nichts und ist ganz fokussiert bei der Arbeit. Erst wenn man Hunger oder Durst bekommt, merkt man, dass die Zeit vergangen ist.“
Wahrscheinlich wurde das verstorbene Kind vor 12.000 Jahren vor der Höhle abgelegt. „So ging man damals, wenn der Boden gefroren war, mit Toten um“, erläuterte Professor Michael Baales, Archäologe beim Landschaftsverband. Möglicherweise sei der Körper noch bedeckt worden, dann habe man ihn dort liegen gelassen. Was nach Jahrtausenden übrig bleibe, seien einzelne Knochen: „Wir gehen fest davon aus, dass wir noch mehr von dem Kind finden werden.“
Erkenntnisse für den Klimawandel
Vor 12.000 Jahren ungefähr endete die letzte Eiszeit auf der Erde und mit ihr die Altsteinzeit. Die Fundsituation ermöglicht den Wissenschaftlern Einblicke in das damalige Klima und die Umwelt der Blätterhöhle. Von anderen Ausgrabungsorten weiß man, dass die Menschen in Westfalen damals Rentierherden bejagten, die im Frühjahr aus dem Norden in die Mittelgebirge zogen.
An der Blätterhöhle wurden jedoch keine Knochen von Rentieren gefunden, sondern nur die Überreste von Rothirschen. Alles deute darauf hin, dass es vor 12.000 Jahren innerhalb kürzester Zeit zu einem dramatischen Klimawandel kam, die kurzfristige Erwärmung führte zu einem schnellen Wandel in der Flora und Fauna. „Dieser Wandel hat zu einer Migration von Tier und Mensch aus benachbarten Gegenden in unsere Region geführt. Das zeigt einmal mehr, wie mobil die damaligen Menschen in Europa waren und wie rasch sie sich an neue Gegebenheiten anpassen konnten“, so Baales. Die bisherigen Forschungen haben zudem gezeigt, wie schnell Klimaveränderungen vonstatten gehen können, insofern können die an der Blätterhöhle gewonnenen Feststellungen wichtige Erkenntnisse für die Zukunft liefern.
Ihren Namen bekam die Höhle in Hagen übrigens, da der gesamte Bereich dicht mit Laub aufgefüllt war, als 2004 der verschüttete Eingangsbereich freigeräumt wurde, um in die Tiefe vordringen zu können. Dabei fanden sich die ersten menschlichen Überreste. Seitdem führen Fachleute regelmäßig Grabungen in und vor der Höhle durch. Insgesamt wurden bislang menschliche Reste von fünf Individuen geborgen.
Es gilt als gesichert, dass die Menschen damals nicht in der engen Höhle lebten, sondern sich wiederholt auf dem Vorplatz aufhielten. Die Lage der Höhle war gut geeignet, da sie die Menschen vor dem Wetter schützte und die nahen Bach- und Flusstäler reichlich Nahrung boten.