Wenden. Freiwillige aus Wenden treffen sich in den frühen Morgenstunden, um Kitze vor dem Mähtod zu retten. Warum sich das manchmal schwierig gestaltet:
Erste Sonnenstrahlen tauchen am Horizont auf. Vögel zwitschern bunt durcheinander, um den Tag zu begrüßen. 4.30 Uhr. Die Helfer treffen sich an einer Wiese gegenüber von Christoph Schürholz Hof in Hünsborn. Kälte kriecht an den Beinen hoch. „Die frühen Morgenstunden sind ideal, weil der Temperaturunterschied noch so hoch ist. Da liegt die Trefferquote bei fast 100 Prozent“, erklärt Michael Sommer, der die Drohne auf dem Trampelpfad in Position bringt. Ein Surren, das an einen Bienenschwarm erinnert. Die Kamera steigt auf und begibt sich auf ihre vorprogrammierte Flugroute. Sie soll Rehkitze im hohen Gras aufspüren.
Deutschlandweit sterben rund 90.000 Kitze pro Jahr bei der Mahd
Der Verein „Mountainbike (MTB) Wendener Land“ hat vor Kurzem die Unterabteilung „Wendsche Kitzrettung“ gegründet, um einen Beitrag zum Naturschutz zu leisten. Denn jährlich sterben rund 90.000 Rehkitze in Deutschland, weil sie beim Schnitt schlichtweg übersehen werden. Unerträglich für Förster Michael Sommer aus Vahlberg. Zumal sich der brutale Mähtod mit relativ einfachen Mitteln verhindern lässt. Im Grunde braucht es nämlich nur eine Drohne mit Wärmebildkamera und engagierte Leute. „Innerhalb kürzester Zeit haben sich an die 40 Freiwilligen bei uns gemeldet, die bei der Rehkitzrettung helfen wollen“, freut sich Sommer. Das riesige Interesse sei wohl mit dem „Bambi-Faktor“ zu erklären: Ein hilfloses, flauschiges Geschöpf mit großen Augen löst einen starken Beschützerreflex aus. Wenn das niedliche Tierchen dann auch noch gerettet wird, werden Endorphine in bislang unbekanntem Ausmaß freigesetzt. Gutes tun, Gutes fühlen.
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4.30 Uhr gähnend am Wiesenrand zu stehen und auf die ersten wärmenden Sonnenstrahlen zu warten, fühlt sich erst mal nicht so gut an. „Sobald man aber ein Kitz auf dem Arm hält, ist alles vergessen“, sagt Sommer lächelnd. Also kauern die Helfer zunächst rund um den Bildschirm der Drohne, um zu sehen, ob sich tatsächlich ein Kitz im Gras versteckt hat. Ein weißer Punkt zeigt eine Wärmequelle an und könnte somit auf ein Tier hindeuten. „Es kann aber auch nur eine Fehlstelle sein, ein Maulwurfshügel, ein Hase oder eine Ochsenzunge“, wirft Sommer ein. Letzteres ist eine Pflanze, deren großen Blätter sich schnell im Sonnenlicht aufheizen und dementsprechend Wärme an die Umgebung abgeben. Um die Wärmequelle genauer bestimmen zu können, ändert Sommer die Ansicht auf dem Display und lässt die Drohne etwas tiefer fliegen. Dieses Mal ist es eine Ochsenzunge. Kein Problem. Christoph Schürholz kann mit dem Mähen beginnen.
Fluchtinstinkt fehlt in den ersten sechs Lebenswochen
Warum laufen die Rehkitze nicht einfach weg, sobald sich ein Mähdrescher nähert? „Neugeborene Kitze haben noch keinen Fluchtinstinkt. Erst in einem Alter von etwa sechs Wochen setzt dieser ein“, erklärt Sommer. Davor drücken sie sich regelrecht auf den Wiesenboden, wo die Ricke sie zuvor abgelegt hat. Selbst wer direkt vor einem derart zusammengekauerten Kitz steht, muss ganz genau hinschauen, um es im hohen Gras überhaupt zu entdecken. „Ich könnte niemanden einem Vorwurf machen, der beim bloßen Kontrollgang über die Wiese ein Kitz übersieht. Das gleicht einem Lotteriespiel“, meint Sommer.
Um aus Glück Gewissheit werden zu lassen, setzt die „Wendsche Kitzrettung“ von Anfang an auf die Drohne mit Wärmebildfunktion. Inklusive Ausrüstung belaufen sich die Kosten auf rund 9000 Euro, dazu kommen noch Auslagen wie die Ausnahmegenehmigung (100 Euro pro Jahr) oder die Anschaffung von Ersatzteilen. „Wenn man bedenkt, dass das Land NRW 200.000 Euro für die Kreisjägerschaften zu diesem Zweck zur Verfügung gestellt hat, bekommen wir pro Kreis aber gerade mal knapp 4000 Euro. Der Rest muss durch Spenden finanziert werden“, rechnet Sommer vor. Dem MTB ist das gelungen. Um die laufenden Kosten zu decken, erhebt das Team einen kleinen Beitrag in Höhe von 50 Cent pro Flugminute für MTB-Mitglieder, Nicht-Mitglieder zahlen 1 Euro.
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Auf den zu kontrollierenden Wiesenflächen in Hünsborn findet die Gruppe kein Kitz. Auch nicht in Heid. „Besser so, als wenn wir uns nicht ganz sicher wären“, meint Helfer Louis Jung. Mittlerweile ist es kurz nach 7 Uhr, der letzte Einsatzort für heute ist eine Fläche bei Wenden. Förster Bastian Alfes hat Kaffee mitgebracht, für die Helfer, die dankend die dampfenden Becher umfassen. Die Drohne steigt auf und fliegt nach ihrer vorprogrammierten Route. Plötzlich entdeckt Jung einen weißen Punkt auf dem Display. Wieder eine Ochsenzunge? Er ändert die Ansicht. Nein, die Stelle ist braun. Er navigiert die Kamera näher an den Punkt, ein Luftzug lässt die Grashalme kurz zur Seite biegen und gibt die Sicht frei. „Das ist eins!“, sagt Sommer und stellt den Kaffeebecher zur Seite. Der Zeitpunkt, an dem die Kitzretter eingreifen.
Kitz stößt einen schrillen, markerschütternden Schrei aus
Jung und Sommer halten die Drohne auf Kurs, sie schwebt direkt über dem Kitz. So wissen die übrigen fünf Helfer genau, welche Stelle sie anpeilen müssen. Sie ziehen Handschuhe an, reißen ein paar Büschel Gras aus und legen diese in einen runden Wäschekorb; da soll das Kitz gleich hineingesetzt werden. Noch ein paar Meter bis zur Stelle, wo die Drohne ausharrt. Vorsichtig heranschleichen. Langsam. Da liegt es. Zusammengekauert und still. David Vierschilling hält den Korb, während Matthias Bürger mit beiden Händen unter den Bauch des Kitzes greift und es hochhebt. Das Kleine wehrt sich nicht – stößt aber einen lauten Schrei aus, der über das ganze Gelände schallt. Spitz und schrill. Mitleiderregend. Das bekommt auch die Ricke mit. Sie beobachtet die Gruppe aus gut Hundert Meter Entfernung. Dann – Stille. Das Kitz hat sich im Korb wieder zusammengerollt. Mama und Kind haben sich etwas beruhigt.
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Die Helfer tragen Korb und Kitz zu einer angrenzenden Fläche, die nicht gemäht wird. Hier bleibt das Kleine, bis Alfes die Mäharbeiten erledigt hat. „Das ist eine super Sache mit der Drohne“, zeigt sich der Förster begeistert. Bedeutend schneller, als wenn man die Fläche abgeht, und bedeutend treffsicherer. „Das ist ein bisschen wie Schatzsuche.“ Wohl wahr. Einen Schatz haben sie heute gefunden.