Altenhagen. Es ist eine Sicht, wie es sie öffentlich auf die Alleestraße in Altenhagen noch nie gegeben hat. Es sind Gedanken von Anwohner Werner Reinhardt.
Bitte ehrlich sein. Was fällt Ihnen ein, wenn Sie das Wort Alleestraße hören? Ist das einfach irgendeine Straße für Sie oder begleiten eventuell Halbwissen, Vorurteile und Klischees die Gedanken? Wenn es im Rahmen dieser Serie darum geht, wie Menschen in all ihrer Unterschiedlichkeit in Hagen gemeinsam leben, dann kommt man um diese Straße einfach nicht herum. Zum ersten Mal ist der Blickwinkel dabei aber ein ganz anderer. Denn es spricht einer, der schon hier war, als die Straßenbahnlinie 7 noch durch die Alleestraße rollte. Der erlebt hat, wie die Straße sich in den 60er-Jahren wandelte und der es bis heute sehr wertschätzt, in einem Schmelztiegel der Kulturen zu leben. (Keine Nachrichten aus Hagen mehr verpassen: Der WP Newsletter)
Werner Reinhardt ist 71 Jahre alt. Viele Hagener werden ihn vor allem als Anwalt kennen. Viele Jahre hat er sich in seiner Kanzlei in der Alleestraße um Miet- und Wohneigentumsrecht gekümmert. Wohnen, Wohnkonflikte oder -streitigkeiten sind folglich etwas, mit dem er sich auskennt. Aber nicht aus seinem Umfeld. Sein ganzes Leben lang lebt Reinhardt nämlich schon in der Alleestraße.
Klischees und Vorurteile
Dort, wo sich die halbe Stadt – ohne jemals wirklich dagewesen zu sein – ein Urteil darüber erlaubt, ob beispielsweise Feuerwerke an Silvester in dieser „Zone“ verboten werden sollten, weil Rettungskräfte damit in der Vergangenheit beschossen wurden.
Das ist alles genau so passiert. Ein 18-Jähriger ging 2020 sogar ins Gefängnis. Er hatte eine Silvesterrakete auf Polizeibeamte abgefeuert. Sie verfehlte den Kopf eines Polizisten nur knapp. Vom Amtsgericht gab es wegen einer versuchten gefährlichen Körperverletzung in Tateinheit mit tätlichem Angriff gegen Vollstreckungsbeamte und Beleidigung eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten.
Silvesternächte ramponieren das Image
Solche Szenen und für viele, die noch nie zu Fuß durch die Straße gelaufen sind auch die Tatsache, dass der Ausländeranteil groß ist, reichen, um der Alleestraße ein zwielichtiges Image zu verpassen. „Dabei ist das gar nicht zu rechtfertigen“, sagt Werner Reinhardt.
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Noch Anfang der 60er-Jahre hatte die Alleestraße, die die Boeler Straße und die Brinkstraße miteinander verbindet, ein ganz anderes Antlitz. Es lag Kopfsteinpflaster, die Straßenbahn fuhr. Deutsches, gutbürgerliches Milieu war vertreten, Händler reihte sich an Händler. Wollte man einkaufen, ging man einfach die Alleestraße hoch und runter. Die Mieten, so erinnert sich Werner Reinhardt, waren schon immer günstiger als im übrigen Bereich Altenhagens.
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Ein Spaziergang ist empfehlenswert
Das zog zunächst türkische Gastarbeiter-Familien an, die sich in gepflegter Umgebung mit fairen Mieten ihr Privatleben aufbauen wollten. Später fanden auch Flüchtlinge aus anderen Ländern und Zuwanderer hier ein Zuhause. Innerhalb von 20 Jahren wandelte sich die Straße aus einer deutschen Siedlung in einen multi-kulturellen Straßenzug. Das äußert sich heute auch im Laden-Mix und in den Sprachen die man hört, wenn man durch die Straße spaziert, was sehr zu empfehlen ist.
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„Für uns Einheimische war dieser Wandel eigentlich eine Bereicherung“, sagt Werner Reinhardt, der hier eine Wohnimmobilie besitzt und nie über einen Wegzug nachgedacht hat. „Sicher, es gab mal Probleme mit Vermietern, die nur an rumänische Bürger vermieten wollten oder auch eine Sperrmüllproblematik. Aber das hat sich alles gelegt“, sagt er.
Multikulturelle Geburtstage
Er erinnert sich, wie seine vier Kinder in der benachbarten Erwin-Hegemannschule in Klassen unterrichtet wurden, in denen auch die türkische Kultur nun eine Rolle spielte. „Türkische und marokkanische Kinder kamen nun zu Kindergeburtstagen zu uns. Viele von denen sind längst erwachsen und haben sich auch hier mit ihren Familien in Altenhagen niedergelassen. Wenn Sie mich fragen, dann gibt es eine Außen- und eine Innensicht auf diese Straße. Und die Innensicht ist, dass man sich hier respektiert, gut miteinander lebt und sich unterstützt“, sagt Werner Reinhardt über die gewachsenen Nachbarschaftsstrukturen. „Das ist nicht Emst oder Kuhlerkamp hier. Muss es aber auch nicht sein“, sagt Werner Reinhardt.
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Deswegen sei es auch nicht okay, wenn man behaupte, dass das Viertel nicht mehr gutbürgerlich sei, nur weil der Migrantenanteil hier so hoch sei. Gerade in diesem Mix erfährt der antiquierte Begriff der Gutbürgerlichkeit eine moderne Bedeutung. Gutbürgerlichkeit wird nicht mit einer Nationalität verbunden, sondern mit einem Verhalten untereinander.
Eine Ansicht, die die Alleestraße verdient.